Ein Viertel im Aufbruch

Von Caspar Schmidt

Ein Viertel im Aufbruch

Im Münchner Westend feiern junge Kulturschaffende ihren Einzug. Sie kaufen bio, beziehen Ökostrom und haben keine Autos – womit auch kein Auto in Rauch aufgeht. „Open Westend“ oder Westend Magazin heißen die Abrissbirnen einer Bourgeoisie, die auszog, um dem bürgerlichen Mief der Vorstadt zu entkommen, aber nicht im Stande war, ihn abzustreifen.

Wir haben zusammen James Bond gespielt, ein Computer aus Pappkarton war die Zentrale. Unsere Eltern hatten den Mix aus Waldmeistersirup nicht zu rühren, sondern zu schütteln, und vor allem nicht während der Actionszenen zu servieren. Ich übernahm die Rolle von Miss Moneypenny, aber nur einmal. Viele Jahre später begab sich mein ehemaliger Spielgefährte und Nachbar dann nach Leipzig und studierte die Leipziger Schule. Heute ist er unregelmäßig in München, zumeist in Berlin, in München nur, um Bilder auszustellen. Seine Bilder sind grobe Schinken. Wochen benötigt er, die flächigen Ölschichten aufzutragen und zu berubbeln, bis ein weiteres Monument verspielter Gewalt angefertigt ist, um die Betrachtenden liebevoll damit zu erschlagen. Nach seinen Münchner Gastspielen sitzen wir gelegentlich noch bei einem Kranz Bier, reden, in der Regel über die aktuellen Fußballergebnisse. Manchmal dann auch über Kunst. Was denn die Kunst- und Kulturstadt München so hermache, habe ich ihn einmal gefragt. Daraufhin er: „Die großen Kunsthäuser zeigen schon Beeindruckendes. Hingegen hat die Münchner Kunstszene schlechthin seit langem nichts Erstaunliches mehr auf die Leinwand gebracht.“

Mit seiner Expertise befand sich mein Freund in guter Gesellschaft. Schon Lion Feuchtwanger kritisierte die Münchner Kunstszene: „Es war nicht viel echt an dieser Stadt, eigentlich nur die Umgebung, die schönen staatlichen Bilder- und Büchersammlungen, der Karneval und wahrscheinlich auch, aber davon verstehe ich nichts, das Bier. Die Stadt hielt damals noch viel auf ihre Tradition als Kunststadt. Es war aber nicht weit her mit dieser Kunst. Vielmehr war sie eine akademische, wichtigmacherische, spießbürgerliche Institution, von einer zähen, dumpfigen und geistig nicht gut gelüfteten Bevölkerung, im wesentlichen aus Gründen des Fremdenverkehrs beibehalten.“

Im Westend nichts Neues

Was Feuchtwanger damals noch entmystifizieren musste, gibt heute die Münchner Kunstszene ohne Not von sich Preis. Auf der Webseite von „Open Westend“, einem Zusammenschluss so genannter „Kreativer“, werden „Führungen“ durchs Münchner Westend mit den Worten angepriesen: „Entdecken Sie mit uns die Künstler-Ateliers im Westend! Gemeinsam schauen wir hinter die Kulissen und gewinnen einen faszinierenden Einblick in das vielfältige, kreative Schaffen im Westend. Erleben Sie, wie sich das lebendige Stadtviertel wandelt und zu einer der ersten Adressen für Kreative in München avanciert.“ Die Verschmelzung von Fremdenverkehr und Kunst ist diesen Zeilen leicht zu entnehmen, sowie die leise Vorahnung der „Kreativen“ selbst, kaum etwas Echtes bieten zu können, außer die originelle Umgebung, die als Prädikat „Westend“ zur Dachmarke transformieren soll. Ohne Kapitalbesitz und ohne Aussicht, die eigene Arbeitskraft in den Dienst des Kapitals zu stellen, wird das Naheliegendste, die Nachbarschaft, kurzerhand in ihr proletarisches Kapital umgedichtet. Die Nachbarschaft verwerte sich aber nur gewinnbringend – so die Annahme – mit dem Einrühren ihrer künstlerischen Arbeitskraft. Nebenbei scheint diesen „Kreativen“ die Fähigkeit ganz abhanden gekommen, etwas um seiner selbst willen zu lieben oder zu tun, wie es die Kachelofenbauerinnen und -bauern zu tun pflegten, als sie die Innenseiten der Kachelöfen einzig zu ihrer eigenen Erbauung verzierten.

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