Call

 

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Call for papers: Hinterland #54
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Schwerpunkt: erinnerung
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Liebe Freund*innen, liebe Autor*innen,

wisst ihr noch? Gestern, vorhin, damals? Nein? Alles vergessen? Es ist faszinierend, wie der Speichervorgang auf der menschlichen Festplatte funktioniert. Wenn wie bei Demenz- oder Alzheimererkrankten alles langsam verschwindet und zum Teil nur die ältesten Erinnerungen bleiben. Wenn wie bei Savants, einer Gruppe auf dem autistischen Spektrum mit Inselbegabung, das Gehirn einfach alles erinnert – bis hin zum kleinsten Detail wie der Anzahl der Fenster eines einmalig gesehenen Gebäudes. Wenn wie zu Schulzeiten alle gelernten Vokabeln nach der Prüfung augenblicklich verschwunden sind. Viel zu oft vergessen wir das, was wir gerne behalten würden, und an das, was wir lieber vergessen würden, erinnern wir uns.

Und so wie das Individuum tun sich auch Gesellschaften mit dem Erinnern schwer. Die Deutschen zum Beispiel würden ja lieber vergessen, was ihre Vorfahren so gemacht haben, werden aber von dieser blöden Geschichte immer wieder zum Erinnern gezwungen. Die Shoah, die industrielle Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, ist ein in seinen Ausmaßen und seiner Totalität historisch einmaliger Zivilisationsbruch, der erinnert werden muss. Nicht zu vergessen auch die Sinti*zze und Rom*nja, Kommunist*innen und Anarchist*innen, Behinderte und LGBTIQ*s, die ermordet wurden – die Enteignungen, Entrechtungen und Verfolgungen. „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, schrieb Theodor Adorno. Doch wie kann man überhaupt angemessen an die deutsche Barbarei erinnern? Wie kann man das Andenken der Opfer ehren, die Gräueltaten der Täter aufzeigen und an die Verantwortung der nachfolgenden Generationen appellieren? In Deutschland scheint es, als trage die scheinbare Aufarbeitung der Vergangenheit vielmehr den Wunsch nach einem Schlussstrich in sich.

Und auch bei den beinahe alltäglichen Verbrechen, die von rassistischen oder antisemitischen, von homo-, transphoben oder frauenfeindlichen Täter*innen begangen wurden, scheint der Mehrheitsgesellschaft ein Schlussstrich lieber. Wer erinnert sich denn noch an Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen, München, Kassel, Halle oder an Hanau? Wer an den NSU? Und vor allem: Wer erinnert sich an die Namen der Opfer? Die Opfer dieser Taten müssen das Leid jeden Tag aufs Neue erinnern – so wie auch Geflüchtete ihre Traumata der Flucht erinnern müssen.

Wir von der Hinterland wollen nicht vergessen, wir wollen erinnern. Erinnert auch ihr. Schickt uns eindrucksvolle Essays zur Erinnerung und gewagte Glossen zum Gedenken. Schreibt kritische Kommentare, träumerische Tiraden oder amüsante Anekdoten. Macht Bilderstrecken und Graphic Novels.

Besonders freuen wir uns auf eure Texte, wenn ihr selbst Erinnerungs-, Diskriminierungs- oder Fluchterfahrungen gemacht habt, wenn ihr jüdisch, Sinti*zze, Rom*nja oder People of Color seid, wenn ihr behindert werdet oder wenn ihr aus der LGBTIQ*-Community kommt.

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Ideenabgabe: 22. Januar 2023
Redaktionsschluss: 12. März 2023
Ideen an: redaktion@hinterland-magazin.de

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Wir vergessen euch nicht, eure
Eure Hinterland-Redaktion

 

 Collage: Ulrich Sebulke