Abschiebe-Bescheid beim Boarding

Von Stephan Kessler

Abschiebe-Bescheid beim Boarding

Seit 2003 gilt die Dublin II-Verordnung für die EU-Mitgliedstaaten, Norwegen und Island, seit 2008 auch für die Schweiz. Sie legt fest, welcher Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist und unter welchen Voraussetzungen gegebenenfalls eine Abschiebung in einen anderen Staat erfolgen kann. Durch diese Regelung werden Menschen wie Apfelsinenkisten hin- und hergeschoben. Im Jahr 2011 haben zwei höchste europäische Gerichtshöfe wichtige Urteile zur Anwendung der Dublin II-Verordnung gefällt. Was sind die Konsequenzen dieser Entscheidungen?

Europa ist bekanntlich nicht gleich Europa. Der Europarat umfasst 47 Mitgliedstaaten, einschließlich Russland und Türkei. Zu seinen Organen zählt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, der die Europä – ische Menschenrechtskonvention verbindlich auslegt. Hiervon zu unterscheiden ist die Europäische Union (EU) mit ihren 27 Mitgliedstaaten. Deren oberstes Gericht, der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg, interpretiert verbindlich Unionsrecht, einschließlich der Grundrechtecharta.

Der EGMR hat am 21. Januar 2011 ein viel beachtetes Urteil gefällt, bei dem es um die Abschiebung nach der Dublin II-Verordnung von Belgien nach Griechenland ging.1 Zufälligerweise genau elf Monate später, am 21. Dezember 2011, fällte der EuGH ebenfalls ein Urteil, das Fragen der Vereinbarkeit von DublinAbschiebungen nach Griechenland mit dem Unionsrecht behandelte.2 In beiden Fällen spielte also die Situation in Griechenland eine besondere Rolle.3

Menschenrechtliche Mindeststandards

Beide Gerichtshöfe nehmen die europäische Politik beim Wort: Seit Jahren ist vereinbart, dass spätestens 2012 in der EU ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ bestehen soll. Dessen Grundlagen sind neben der Dublin II-Verordnung vor allem Richtlinien, die einen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff herbeiführen und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende und Einzelheiten der Asylverfahren regeln sollen. Zusammen bilden diese Rechtsakte ein System von Mindeststandards, die zumindest nicht systematisch und dauerhaft unterschritten werden dürfen.

Vor dem Hintergrund, dass, wie der EGMR feststellt, Asylsuchende aufgrund ihrer spezifischen Situation im Aufnahmeland eine besonders verletzbare Gruppe darstellen, ziehen die Gerichtshöfe die folgende Konsequenz: Werden einer/einem Asylsuchenden dauerhaft Rechte aus diesem System der Mindeststandards vorenthalten, kann dies eine schwerwiegende Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 3) und der Europäischen Grundrechtecharta (Artikel 4) bedeuten. Diese beiden – gleichlautenden – Bestimmungen bilden somit die menschenrechtliche „Messlatte“. Es darf demnach niemand „der Folter oder unmenschlicher oder erniedriegender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“.

(der ganze Artikel im PDF Format)