Reisen in den Tagtraum Europas

Von Tom Reiss

Reisen in den Tagtraum Europas

Eine kurze Untersuchung orientalistischer Reiseerzählungen von Dante über Nerval bis Karl May.

Wir reisen in Kurdistan, um zu sehen, was es hier für Menschen, Tiere und Pflanzen, für Städte und Dörfer gibt.“

Diese Behauptung stammt von Kara Ben Nemsi, dem Protagonisten und Ich-Erzähler von Karl Mays 1892 erschienenen Roman „Durchs wilde Kurdistan“, dem zweiten Band seines Orient-Zyklus. Und ‚Karl, Sohn der Deutschen’ (dafür soll der Name ‚Kara Ben Nemsi’ stehen), der wie später die Figur des Old Shatterhand aus Mays WildWest-Romanen den Autor selbst verkörpern soll, ist mit dieser Aussage noch bescheiden: Neben der Besichtigung der regionalen Flora und Fauna begibt sich Kara Ben Nemsi, stets begleitet von seinem treuen Gehilfen Hadschi Halef Omar, in waghalsige Abenteuer, rettet Damen in Not, jagt Bösewichter, verbreitet das Christentum und schlägt sich ganz allgemein herum mit dekadenten Türkinnen und Türken, hinterhältigen Albanerinnen und Albanern, arroganten Araberinnen und Arabern und blutdürstigen Kurdinnen und Kurden.

Es gibt kaum einen beleidigenden Stereotypen, den Karl May in seinen – in ihrer Form autobiographischen – Ausführungen auslässt, kaum eine Instanz, in der die Prosa übers Drittklassige hinausginge, aber gleichzeitig kaum eine Gruppe von Erzählungen, die bezeichnender für die Tradition des Reiseromans wäre. Denn nicht nur erfreuten und erfreuen sich Mays Romane begeisterter Popularität – sie speisen sich aus und verweisen auf eine lange literarische Praxis, bei deren hauptsächlichem Effekt es sich um nichts weniger handelt, als das Bild und die Wirklichkeit des Orients in der Wahrnehmung ganz Europas. Es geht mir um den Orientalismus.

Die Vampire des 19. Jahrhunderts

Der Orientalismus als expliziter Forschungsbereich wurde im Rahmen des Konzils von Vienne im Jahr 1312 ins Leben gerufen. Es ging dabei hauptsächlich um Kirchenpolitik (etwa den Entzug päpstlicher Unterstützung für den Templerorden) – aber außerdem wurde für verschiedene europäische Universitäten die Einrichtung von Lehrstühlen für Griechisch, Hebräisch, Aramäisch und Arabisch angeordnet. Damit markiert das Konzil den Beginn zweier Dinge: einerseits der Studie der orientalischen Kulturen und Sprachen in Europa – aber andererseits überhaupt erst die Konstitution und Konstruktion des Orients als einem in sich geschlossenen, homogenen Ganzen. Mit dem 14. Jahrhundert beginnt die westliche Welt, den Orient zu sehen und zu untersuchen. Damit schafft sie die Grundlage für den Höhepunkt orientalistischer Ambitionen vier Jahrhunderte später. Denn im 18. Jahrhundert beginnt die literarische Romantik im Zuge der Aufklärung, den Orient zu erobern. Freizügigkeit und Eskapismus, Sturm und Drang gekoppelt mit den Beginnen des Enzyklopädismus treiben etablierte und obskure Schriftsteller Europas gleichermaßen gen Osten; die meisten dieser Reisen finden ihren Weg zwischen Buchdeckel und dann in die gierigen Hände begeisterter daheim gebliebener Landsleute.

(der ganze Artikel im PDF Format)