Die Mär vom Rotationseuropäer

Die Mär vom Rotationseuropäer

Als Aspekt stereotyper Zuschreibungen gehören Vorstellungen von Mobilität und einem Leben auf Wanderschaft seit Jahrhunderten zum Bildervorrat des Antiziganismus. Sie haben so immer wieder dazu beigetragen, gesellschaftliche Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalttaten bis hin zu Mord und Massenmord hervorzubringen, zu legitimieren oder zu begünstigen. Über die Anpassung eines hartnäckigen Ressentiments

Schon die im 9. Jahrhundert im griechischen Diskurs festzustellenden „Zigeuner“-Bilder zeichnen sich unter anderem durch die Zuschreibung einer nomadischen Lebensweise aus. Ab dem 15. Jahrhundert finden sich partiell vergleichbare Bilder auch in Mitteleuropa, die behauptete Wanderschaft erfuhr eine religiös fundierte Erklärung. Sie wurde als Pilgerreise mit dem Zweck der Buße für Verstöße gegen die religiöse Ordnung gedeutet und erschien damit im christlichen Referenzrahmen dieser Zeit offenbar als legitim. Jedenfalls blieb eine gewalttätige Verfolgung im größeren Umfang in dieser frühen Zeit wohl aus. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Mobilität alles andere als eine gesellschaftliche Ausnahme war und zumindest ein Teil der in den Quellen dieser Zeit auftauchenden reisenden „Zigeuner“-Gruppen Schutzbriefe vorweisen konnte.

Die Situation änderte sich drastisch, als die Zuschreibungen um weitere Elemente ergänzt wurden. Ende des 15. Jahrhunderts diente die Behauptung, bei den „Zigeunern“ handele es sich um Spione im Auftrag des Osmanischen Reichs, als Begründung für eine pauschale Vogelfrei-Erklärung. Bereits zuvor war in einem Reichsabschied dazu geraten worden, die „Ausspäher und Verkundschafter der Christenland“ nicht mehr im je eigenen Herrschaftsbereich zu dulden. Auch die religiösen Begründungen der behaupteten ewigen Wanderschaft veränderten sich. Im Laufe des 16. Jahrhunderts tauchte eine Geschichte auf, nach der die angeblichen Vorfahren der „Zigeuner“ der heiligen Familie bei ihrer Flucht vor König Herodes nach Ägypten die Herberge verweigert haben sollen. Dabei handelte es sich offenbar um ein von dem Chronisten Aventin in die Welt gesetztes Gerücht, das über Jahrhunderte immer wieder abgeschrieben und damit beglaubigt wurde.

Gewaltförmige Assimilierungsprogramme

Das 16. Jahrhundert war zudem eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Für die Durchsetzung der protestantischen Arbeitsethik und die Tendenz hin zum Territorialstaat als Herrschaftsform dienten unter anderem „Fahrende“ als Abgrenzungsfolie, mittels derer die neue Normalität bestimmt werden sollte. Die Verwandlung der Bevölkerung in beherrschbare und arbeitsame Untergebene sollte auch durch die Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen betrieben werden. Ihnen wurde vorgeworfen, eben diesen Anforderungen nicht zu genügen, unter ihnen die „Zigeuner“. In einer Zeit, in der die Arbeit moralisch aufgewertet werden sollte, galten Arme nicht mehr als würdige, sondern als unwürdige Arme und das Bild des „wandernden Zigeuners“ wurde um die Facette des angeblichen Unwillens zur Arbeit ergänzt.

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