Ausgabe Nr. 33 | kaputt

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Alle haben wir erleichtert aufgeatmet, als 2014 die Welt doch nicht untergegangen ist. Jetzt haben wir den Salat: Nur zwei Jahre später und fast alles ist kaputt. Donald Trump richtet sich schon mal das bald extrem weiße Haus ein, Marine Le Pen ist im Rennen um den Élysée-Palast auf der Zielgeraden und Recep Erdoğan bastelt munter an seinem absolutistischen Königreich. Die AfD wird eifrig in Landtage gewählt, Pegida marschiert fröhlich weiter, die CSU verabschiedet emsig ein Integrationsgesetz samt Leitkultur. Geflüchteten-Unterkünfte brennen, Proteste werden kriminalisiert und zerschlagen, Menschen drangsaliert und umgebracht. Wir sollten langsam ehrlich mit uns sein und uns damit auseinandersetzen, dass wir in diesem Jahr – die krude Sprache sei entschuldigt – ziemliche Scheiße gebaut haben.

Vieles ist kaputt oder geht kaputt. Regierungen, Gesellschaften, das Konzept objektiver Tatsachen an sich, unbelebte Gegenstände… Was sollen wir mit diesem Trümmerhaufen bloß anfangen? Aufgeben, ins Weltall fliehen, auf dem ganzen kaputten Schutt wütend herumstampfen? Vielleicht die nächstbeste Person verantwortlich machen, die anders aussieht oder die nächstbeste Gruppe, die anders denkt?
Darauf gibt es unsererseits ein zwar etwas müdes, aber nichtsdestoweniger lautes, entschlossenes und trotziges „Nein!“ Ja, es bröckelt um uns herum, und noch viel mehr um Menschen an anderen Orten. Ja, wir alle haben dazu beigetragen, durch Tat oder Unterlassung. Und ja, Sorge und auch Wut und Trauer sind angebracht. Aber wenn alles kaputt geht, muss eben Neues gebaut oder das Alte repariert werden. Und in erster Linie müssen wir herausfinden, was eigentlich alles kaputt ist und was „kaputt“ für uns überhaupt bedeutet.

In diesem Sinne enthält die vorliegende Ausgabe Reportagen, Glossen, Fotos, Polemiken und andere mehr oder weniger kaputte Texte zu allem, was nicht mehr geht. John Figueroa und Ryan Cartwright machen sich Gedanken zu ihrem kaputten Heimatland USA, Human die seinen zum kaputten Afghanistan. Betty Pabst zeigt wie beherztes Kaputtmachen zu äußerst Nützlichem führt. Und Florian Schäfer ergründet den tieferen Sinn hinter kaputten Alltagsgegenständen.

Und so verbleiben wir zum Jahresende mit platten, aber von Herzen kommenden Wünschen: Lasst euch nicht kaputt machen; macht kaputt, was euch kaputt macht!

Eure konstruktiven Abrissbirnen von der Hinterland-Redaktion

Traumatisierte brauchen Sicherheit

Erfahrungen aus Beratung und Therapie für traumatisierte Geflüchtete bei Refugio München

Trauma heißt, das Gefühl für Sicherheit und Wert im Leben verloren zu haben. Beratung und Therapie können traumatisierten Flüchtlingen helfen, den Alltag besser zu bewältigen und den schier unerträglichen Wartezustand im Asylverfahren auszuhalten. Für ihre Heilung brauchen sie eine Willkommenskultur, keine Abschreckungspolitik.

Wer sie kennenlernt, weiß sie schnell zu schätzen. Aber es ist sehr schwer, sie kennen zu lernen. Frau Atonga (Name geändert) hat Angst und redet nicht viel. Die Kongolesin lebt seit einem Jahr in Deutschland. Sie kann kaum darüber sprechen, was sie im Kongo erlebt hat; sofort muss sie weinen. Nur so viel wissen wir: Eines Tages kamen Soldaten in ihr Dorf, töteten oder verschleppten alle Männer, vergewaltigten die Frauen und die Kinder mussten das Grauen mitansehen. Nur andeutungsweise konnte uns Frau Atonga in der Therapie erzählen, was sie selbst erlebt hat. Es braucht viel Zeit, bis aus den inneren Bildern auch Worte werden, die als befreiend erlebt werden. Oft geht es bei den Gesprächen bei Refugio darum, wie sie sich trotz ihrer Trauer, trotz ihrer Depression, um ihren dreijährigen Sohn kümmern kann. Mit ihm ist sie alleine durch Afrika geirrt. Wie sie nach Europa kam, wissen wir nicht.

Sie lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft in München und wartet tagaus, tagein, dass das Leben etwas Hoffnung bringt. Sie kommt einmal in der Woche zur Therapie zu Refugio. „Da bekomme ich Trost. Da hört mir jemand zu“, sagt sie. Nach knapp einem Jahr in Therapie geht es ihr etwas besser. Die Erinnerungen holen sie nicht mehr jede Nacht ein. Sie schafft es besser, sich um ihr Kind zu kümmern, das sie sehr liebt. Sie macht sich Vorwürfe, „keine gute Mutter“ zu sein. Und dabei hat sie so viel erreicht: Sie kocht wieder jeden Tag für ihr Kind. Sie trifft regelmäßig eine Ehrenamtliche, die mit ihr Deutsch lernt. Sie fängt an, sich um ihr Asylverfahren zu kümmern, spricht mit der Anwältin. Vor einem Jahr wäre all das unmöglich gewesen. Die Schritte sind klein, aber sie gehen in Richtung Zukunft.

 

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Kaputtes Heimatland Afghanistan

„Deine Heimat ist Bayern. Gib endlich auf, du kommst hier nicht mehr weg. Die CSU ist auch deine väterliche Kraft, mit dem Strom zu schwimmen ist erfolgversprechend. Schreib du mal zum kaputten Heimatland Afghanistan. Die deutschen Behörden wollen Afghanistan eh am Liebsten als sicheres Herkunftsland einstufen, wenn schon so viele Milliarden dahin fließen. Wären eigentlich alle Menschen in Afghanistan reich, wenn die ganze Kohle für Krieg, Wiederaufbau und die Stützung von korrupten Regierungen einfach auf die Bevölkerung verteilt würde? Da würde sich eine Hochrechnung lohnen. Kaputte Welt.“

Das schrieb mir ein Bayer, als ich ihm mitteilte, dass ich einen Artikel über Afghanistan für die kommende Hinterland beisteuern möchte.
Das stimmt sicher: Ich fühle mich hier heimisch, und das, weil in Bayern wie in Afghanistan Frauen eine sichere Position in der Gesellschaft haben. Der Freiheitsdrang hier wie da gleicht sich, die Waffenvernarrtheit kennt keine Grenzen, die Religion macht die Menschen hier und dort buchstäblich verrückt. Die Menschen, sowohl in Afghanistan als auch in Bayern, leben seit Jahrhunderten im postfaktischen Zeitalter. Damit sind sie Vorreiter in vielen Bereichen.
Nun aber genug zu den Ähnlichkeiten zwischen der alten und neuen Heimat. Und zu der neuen Heimat habe ich in diesem Magazin ohnehin bereits genug von mir gegeben.

Ein kaputtes Konzept für ein kaputtes Land

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„Entschuldigen Sie die Sprache“ Die CSU argumentiert doch wie der NSU

Die menschenfeindliche Stimmungsmache von Vertreterinnen und Vertretern etablierter Parteien grenzt Geflüchtete und Migranten aus,die der rechtsradikale NSU und sein Unterstützernetzwerk ermordeten.

Von Generalsekretären der CSU ist man derbe Worte gewohnt. Ob Stoiber, Söder oder Dobrindt: Rechtspo- pulistische Scharfmacher empfehlen sich damit für höhere Weihen. Doch selbst für bayerische Verhält- nisse lehnte sich der aktuelle Generalsekretär Andreas Scheuer (mittlerweile ohne „Dr.“) im Regensburger Presseclub weit aus dem Fenster: „Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist – weil den wirst du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling.“ Nachdem diese Aussage von Mitte September für breite Kritik gesorgt hatte, verteidigte sich Scheuer damit, dass er seiner überspitzten Äußerung ja „Entschuldigen S‘ die Sprache“ vorangestellt hatte. So sehr er sich jedoch als aufrechter Tabubrecher gibt – seine Sprache ist die eines Rassisten und so klang sie auch nur einen Tag zuvor auf seiner Facebook-Seite: „Asylurlauber auf Heimattrip können gleich bleiben, wo sie hergekommen sind.“ Für seinen Chef, den CSU- Vorsitzenden Seehofer, war die Äußerung über fußballspielende Ministranten schnell abgetan: Er könne nicht erkennen, dass sie gegen die sich angegriffen fühlenden Kirchen und Sportvereine gewandt gewesen wäre.

Das ist in der Tat wahr, richtete sich doch der CSU- Generalsekretär nicht gegen die aufrichtigen Integrationsversuche von Pfaffen und Fußballclubs, sondern gegen „Fremde“ schlechthin. Von Scheuer auf den Punkt gebracht: Der Afrikaner, so sehr er sich auch um Aufnahme in die deutsche Gesellschaft bemüht, wird niemals dazugehören. Im Gegenteil: Integration behindert die möglichst schnelle Abschiebung zurück ins Elend. Demnach sind die Asylgesetze auch nach diversen Verschärfungen („Asylpaketen“) als Beloh- nung des Volksmobs nicht restriktiv genug, um sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ schleunigst wieder loszuwerden. „Das Schlimmste“ sind daher die integrierten Flüchtlinge, deren Abschiebung aufgrund ihrer Verankerung in der bayerischen Gesellschaft, auch und gerade in ihren rückständigsten Formen, weniger leicht von der Hand geht. Es sind die Steuern zahlenden Ausländerinnen und Ausländer, die in Kirchen und auf Sportplätze gehen und bei Dorffesten mitmischen, die für Scheuer und Konsorten so unerträglich sind. Egal welche Anstrengung sie unter- nehmen und welcher Staatsbürgerschaft sie sind, „deutsches Blut“ fließt nicht in ihnen und damit sind sie im Freistaat – im Land der Franken, Oberpfälzer, Bayern, Schwaben und der nach 1945 eingebürgerten NS-Sudetendeutschen – schlichtweg unerwünscht.

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Das Zeitalter der Unvernunft

In unserer durch moderne Technologien enger zusammengerückten Welt ist die Kluft zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen größer denn je. Wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, lassen viele von uns keine anderen Ansichten als die eigenen gelten und stehen allen, die anderer Meinung sind, immer feindseliger gegenüber. Ob die Zeit wohl gekommen ist, unsere Standpunkte zu hinterfragen? Eine Betrachtung über verschiedene Aspekte der USA und eine Aufforderung, uns gegenseitig besser zuzuhören.

Kritisches Denken. Definition: Die objektive Analyse, Beurteilung und Hinterfragung eines Sachverhalts, um sich ein Urteil zu bilden.

Kürzlich hat mir ein Freund – nennen wir ihn mal Werner, um seine Privatsphäre zu schützen – wegen des Erfolgs von Donald Trump im US-Wahlkampf den Kopf gewaschen (das war vor dessen Wahlgewinn). „Ihr seid so dumm in den USA, es ist unglaublich, dass ihr diesen Mann unterstützt!“

Er war ziemlich aufgebracht – mit erhobener Stimme und fuchtelndem Zeigefinger. Ich versuchte, cool zu bleiben. Schließlich war ich ja gleicher Meinung. Für mich ist Trump eine Katastrophe und eine Blamage. Außerdem bin ich als Amerikaner in Deutschland an solche Sachen gewöhnt. Die Leute sind wütend über die Militärinterventionen und kulturelle Vorherrschaft der USA. Vieles sehe ich ähnlich; manches finde ich zu undifferenziert, aber das hebe ich mir für einen anderen Artikel au.

Ich hab’ mir also die Standpauke von ihm angehört so gut es ging, doch dann ist mir plötzlich etwas klar geworden und ich meinte:

„Wenn du ein US-Staatsbürger wärst, würdest du, glaube ich, Trump wählen!“

Er machte große Augen, ich konnte sehen, dass er sich zutiefst beleidigt fühlte.

„Denk mal darüber nach“, sagte ich und zählte die verschiedenen Standpunkte auf, die Werner so befürwortet: die Schließung der deutschen und europäischen Grenzen und ein Einwanderungsstopp, bis die Antragsteller auf ihre Kontakte zu Terroristen überprüft wurden; Deutschland raus aus der NATO und verbesserte Beziehungen zu Vladimir Putin; Einsatz des Militärs gegen den IS, und so weiter, und so fort … Werner hält es außerdem für plausibel, dass es eine muslimische Verschwörung gibt, Europa zu infiltrieren und innerhalb weniger Generationen den ganzen Kontinent zu überrollen. Auch vertraut er den in Deutschland lebenden Türken nicht wirklich; sie könnten Sympathisanten des IS sein, sagte er.
„Das alles deckt sich doch mit vielen von Donald Trumps Ansichten“, meinte ich, „wenn man die ethnischen Gruppen als Zielscheibe der Vorurteile entsprechend austauscht.“

„Nein, nein, VÖLLIGER QUATSCH!“, schrie er.

Aber soviel ich auch protestierte, er wollte nicht einmal versuchen, seine politischen Ansichten aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es hieß einfach: „Nein, du hast unrecht – ich bin nicht wie Trump und Amerikaner sind alle Idioten.“ Ich habe ihn nochmal gebeten, mir bitte zu erklären, was an meinen Überlegungen denn nicht stimme. Er weigerte sich.

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Würden Sie von diesem Herrn einen Glückskeks kaufen?

Seine Heiligkeit der sanften Selbstüberschätzung, der 14. Dalai Lama, äußert sich zur Flüchtlingspolitik.

Lamas sind zum Knuddeln. Der 14. hat seit jeher eine ganz besonders gute Reputation in Deutschland – als Botschafter des sanften Buddhismus, bestrickend im Lachen und einer Verbindung von Gedanken, sowie erotischer Schulterfreiheit, die die Vertreter sonstiger Amtskirchen ziemlich neidisch werden lässt.

Seine Heiligkeit hat der FAZ am 31.5.2016 ein Interview gegeben. Seine deutschen Anhänger werden hauptsächlich die Kernbotschaft wahrnehmen, nach Auffassung des Dalai Lama: die Liebe in allen Religionen. Kein Generalverdacht gegen Religionen wie den Islam, „aufgrund von einigen traurigen Ereignissen, die von einer kleinen Zahl Muslime ausgehen“. Das wird diejenigen überzeugen, die schon immer der Auffas- sung waren, der lamaistische Buddhismus sei eine Religion der Toleranz, weshalb man sich den Blick auf dessen eigene Exzesse ersparen könne, auch wenn man irritiert TV-Bilder von „nationalistischen Mönchen“ und ihren Gewalttaten in manchen Ländern aus dem Augenwinkel wahrnimmt.

Heiligkeiten haben ein Problem. Mit ihrer Weisheit und Allzuständigkeit stehen sie in der Gefahr, zu allem und jedem ein Urteil abgeben zu müssen. Und selbst wenn sie dies dementierten – es wäre die nächste Botschaft. Die Botschaft für die FAZ ist: „Flüchtlinge sollten nur vorübergehend aufgenommen werden.“ So lautet die Überschrift des abgedruckten Interviews. Beantwortet hat seine Allzuständigkeit damit die Frage, zu der der Interviewer anhebt mit: „Sie sind nach all den Jahren immer noch ein Flüchtling. Wie empfinden Sie die gegenwärtige Flüchtlingskrise in Europa?“

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Foto: Mia Pulkkinen
Foto: Mia Pulkkinen