Phantasma der Einheit

Von Elena Stingl und Katalin Kuse

Ein Gespräch mit dem französischen Schriftsteller Karim Miské über Formen des Rechtsextremismus in Frankreich und Deutschland, über Zugehörigkeit und die Kadaver der Geschichte.

Karim Miské weiß sehr genau, was Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Ausschluss in Frankreich bedeuten. Als Sohn eines Mauretaniers und einer Französin wächst er in Frankreich auf. Von vielen wird er als Araber behandelt, der französische Großvater sieht in ihm einen Bastard und die kommunistische Mutter hält ihn zu Geduld und Widerstand an. Er hat 2015 ein Buch darüber geschrieben: N’appartenir (wörtlich: Nicht dazugehören). Halb Autobiographie, halb Essay. Keine Silbe Selbstmitleid. Eine Streitschrift für die Unmöglichkeit von Identität.

Für seinen ersten Roman Arab Jazz erhielt Miské 2012 den Großen Preis für Kriminalliteratur in Frankreich und war mit der Übersetzung Entfliehen kannst Du nie kurz nach den Pariser Anschlägen im November 2015 auf dem Münchner Literaturfest zu Gast. Damals schon erzählte er von den Problemherden der französischen Gesellschaft, den aufgegebenen Banlieus, der Radikalisierung einer zutiefst frustrierten, arbeitslosen Jugend und der Stimmung in Paris. Er sprach gehemmt, immer noch halb fassungslos, misstrauisch gegen das, was erst folgen würde und nicht bereit, schon Urteile zu fällen.

Ein Quartal später, als wir ihn Mitte Februar 2016 zu einem Gespräch im Pariser 11. Arrondissement treffen, soll gerade eine Verfassungsänderung durchgesetzt werden, die mutmaßlichen Terroristinnen und Terroristen die französische Staatsbürgerschaft entziehen kann. Sie enthielt keine Vorschläge für eine ernsthafte Unterstützung in den trostlosen Banlieus, in denen die Attentäter der Anschläge im letzten Herbst aufwuchsen; keine Debatte über die politische Vereinnahmung des Begriffes Terrorismus, ganz zu Schweigen von der Erforschung von Gründen für Terrorismus im eigenen Land. Frankreich befindet sich noch immer im Notstand, der der Polizei beinahe uneingeschränktes Vorgehen und Eingreifen erlaubt. Die Regierung ist nach ihrer dritten Umbildung innerhalb von drei Jahren und dem umstrittenen Rücktritt der Justizministerin Christiane Taubira im öffentlichen Ansehen geschwächt wie nie. Taubira, die vor zwei Jahren die Ehe für Homosexuelle in Frankreich – marriage pour tous – gesetzlich verankerte, trat aus Protest gegen den Gesetzesentwurf der Regierung zurück. Am anderen Ende des politischen Spektrums erhält Marine Le Pens rechtsextremer Front national (FN) nicht nur kontinuierlichen Zulauf – in den französischen Regionalwahlen 2015 kam die Partei auf ein Rekordhoch von knapp 28% aller Wählerinnen- und Wählerstimmen – sondern ernennt sich bereits selbst zum Thronfolger der verdorbenen etablierten Parteien. Tous pourris (alle verfault), so Le Pens wirksamer Slogan. Miskés Zurückhaltung ist passé.

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