Parallele Welten
Von Michael Trammer
Die Grenzen Europas werden zunehmend feindselig. Längst ist die Freizügigkeit im Schengen-Raum eingeschränkt durch den Versuch, Geflüchtete nicht über die Grenzen zu lassen. Geflüchtete finden deshalb immer neue Wege. Wie rings ums Mittelmeer zeigt sich auch mitten in Europa: Die neuen Routen, auf die Geflüchtete ausweichen müssen, werden gefährlicher. Im Wintersportgebiet Bardonecchia im italienischen Piemont riskieren Geflüchtete ihr Leben.
Was im Behördenjargon ‚integriertes Grenzmanagement‘ genannt wird, ist eine komplizierte Angelegenheit. Grenzen vervielfältigen sich, bilden Grenzräume, Kontrollen sind den Grenzen vor- oder nachgelagert, aber zugleich werden auch Zäune, Mauern, Gräben gezogen. Hotspots und Transitlager werden eingerichtet, um Geflüchtete festzuhalten. All dies geschieht mit dem einen Ziel: Eine Zuwanderung von Geflüchteten nach Europa und auch ihre Mobilität innerhalb Europas möglichst zu erschweren. Seit dem ,Sommer der Migration‘ im Jahr 2015 wurden die Bestrebungen intensiviert.
Ein weiteres Kapitel dieser Geschichte spielt sich näher am Zentrum Europas ab, als wohl viele denken: im italienischen Bergdorf Bardonecchia, einem berühmten Ski- und Wintersportzentrum, nicht weit von Turin in Norditalien. Nachdem Frankreich die Grenzübergänge weiter südlich in den Seealpen scharf bewacht, versuchen Geflüchtete hier über schneebedeckte Bergpässe nach Frankreich zu gelangen. Die Gefahren sind vielfältig: Unterkühlung und Lawinen drohen, und das Risiko, in Nacht und Schnee den Weg zu verlieren ist gerade für Menschen mit wenig Erfahrung am Berg groß. In der grandiosen Berglandschaft des Piemont spielen sich Dramen ab.
Seit einem guten halben Jahr versucht die italienische NGO Rainbow4Africa Geflüchteten zu helfen, die am Bahnhof von Bardonecchia gestrandet sind. Die Mit- arbeiter*innen der NGO können die Geflüchteten gerade mit dem Nötigsten versorgen: warmes Essen, ein Schlafplatz während stürmischer und kalter Winte- rnächte, medizinischen Beistand und Erste Hilfe, warme Kleidung. Eigentlich betreibt die NGO ein Seenotrettungsschiff auf dem Mittelmeer. In Bardonecchia versucht sie einen Überblick zu behalten, wie viele Geflüchtete versuchen die Berge zu überqueren. Jede medizinische Behandlung durch die Ärzt*innen vor Ort wird dokumentiert. Ohne das notwendige Wissen über die Berge haben sich bereits zahlreiche tragische Schicksale abgespielt. Giovanna, als Ärztin ehrenamtlich für Rainbow4Africa in Bardonecchia tätig, fasst die Situation so zusammen:
„Geflüchtete kommen ohne Vorbereitung und Kleidung, aber sie wissen den Weg. Mit diesem grausamen Wetter ist es unmöglich. Wir versuchen die Gefahren der Berge zu erklären und wie man überlebt. Ich sehe zwei parallele Welten: Manche Einheimische helfen und arbeiten mit uns, doch das Leben der Touristen geht unbehelligt weiter … Alles in allem kümmern sie sich nicht um das Schicksal der Geflüchteten hier in Bardonecchia.“