yalini will mehr ruhe um sich

Von SAID

yalini will mehr ruhe um sich
„die beschuldigte lief mit nackten brüsten und in sandalen umher. der anblick verstörte einige passanten. diese wurden von der frau auch noch angepöbelt.“
der satz stand in der akte.
ich gehe zur tür, öffne und rufe ihren namen.
eine frau ist im warteraum, sie steht am fenster und schaut hinaus. als sie ihren namen hört, dreht sie sich um und kommt auf mich zu. ich nenne meinen namen und strecke die hand aus –
yalini ignoriert die hand.
sie hebt jedes bein nach hinten und zieht die sandalen aus. diese nimmt sie in eine hand, geht an mir vorbei und bleibt in der amtsstube stehen.
ich setze mich an den schreibtisch und bitte sie, platz zu nehmen.
yalini lässt die sandalen fallen, lächelt, greift zum stuhl, rückt ihn an die wand und setzt sich. sie lehnt den kopf an die wand und schließt die augen; als wäre sie erschöpft.
– ich hoffe, sie haben alle papiere bei sich.
sie wacht auf, öffnet die handtasche und reicht mir die papiere.
ich frage sie, welche begründung sie angeben möchte.
– ich will mehr ruhe um mich.
ich trage den satz ein und lasse sie unterschreiben.
die antragstellerin ist mitte vierzig und verwitwet. der sohn studiert in einer anderen stadt und
besucht die mutter einmal im jahr. sie behauptet von sich, dass sie schlecht hört.
laut polizeibericht ist sie sonst nie auffällig geworden. sie lebt von einer kleinen rente und
verlässt selten das haus. dann aber geht sie lange spazieren, ziellos durch die gassen.
ich frage nach, was sie genau mit der ruhe meint.
– um mich herum ist stets eine große anzahl von menschen.
sie macht eine pause und setzt hinzu:
– sie verbreiten unruhe. vor allem merke ich, dass ich ihnen unbehagen einflöße, besonders
durch meine wörter.
jetzt liefert sie dasselbe lächeln ab, mit dem sie den raum betrat.
– irgendwann wurde mir klar, dass ich das gleichgewicht des tages zerstöre –
durch meinen mund.
– sie meinen durch die sprache.
yalini nickt.
– wenn das mit der reduzierung klappt, dann kann ich ruhig durch die gassen schlendern –
und niemand belästigt mich.
ich werfe einen blick auf das gutachten.
der arzt empfiehlt für sie maximal 321 wörter; mehr verträgt die patientin nicht. der wortschatz würde genügen, damit sie ihre bedürfnisse mitteilt –
ohne andere menschen zu verletzten.
– manchmal wache ich in der nacht auf und höre den wind in den blättern und das lärmen der
stadt. in diesen momenten empfinde ich das verstummen als einen segen.
jetzt nenne ich die anzahl der wörter, die ihr fortan zur verfügung stehen würde.
ohne jegliche regung schaut sie mich an.
– ich bin von gesetzes wegen verpflichtet, ihnen mitzuteilen, dass die reduzierung nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann.
yalini lächelt, dann bückt sie sich, nimmt die sandalen auf und verlässt den raum.<