Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern
Eine Rezension von Cornelia Fiedler
Nicht die Scharfschützen auf dem eigenen Balkon, nicht die Folter durch den syrischen Geheimdienst, die Flucht im überfüllten Boot oder die unwürdige Unterbringung in deutschen Unterkünften setzt Olga Grjasnowa an den Beginn ihres dritten Romans. Sondern den Alltag junger, privilegierter Stadtmenschen, der beim Lesen gleich ungeheuer vertraut wirkt: Den Groll über die Gentrifizierung des Lieblingsviertels von Damaskus, die übertrieben fröhliche Wieder- vereinigung einer Jugendclique, die sich längst auseinandergelebt hat, die sorglose Shoppingtour zweier Freundinnen, den kleinen Flirt auf der Demo, der wichtiger ist, als die Proteste drumherum. In schnellem Wechsel springt sie zwischen dem Leben der Schauspielstudentin Amal und den Erlebnissen des jungen Chirurgen Hammoudi. Amal kämpft mit ihrem Studienabschluss und feiert gleichzeitig schon erste Erfolge als TV-Serienstar. Als 2011 die ersten Demos stattfinden, ist sie dabei. Sie will Reformen, ein paar Freiheiten, nicht den Sturz des Systems. Hammoudi hat in Frankreich studiert. Er muss nur schnell seinen Pass erneuern lassen, in Deir-az-Zour, seiner Geburtsstadt im Osten Syriens. Dann kann er in Paris seine erste Stelle in einer renommierten Schönheits-Klinik antreten. Der Pass ist kein Problem, doch die Behörde verweigert ihm plötzlich willkürlich die Ausreise. Die Situation kippt erst unmerklich, dann rasend schnell. Um und in Deir-az-Zour werden bald massive Kämpfe zwischen Assads Truppen und der Freien Syrischen Armee ausgetragen. Die Stadt wird von Daesch belagert und besetzt werden, was die Not der Bevölkerung noch verschärft. Grjasnowa lässt Hammoudi über Umwege zu einer oppositionellen Gruppe stoßen. Irgendwann ist er der einzige Arzt in der Stadt, der noch illegal und ohne die nötigsten Medikamente versucht, den viel zu vielen Verletzten und Sterbenden zu helfen. Dieser Wandel passiert recht unvermittelt, fast schematisch. Was ihn antreibt, seine Privilegien aufzugeben, sein Leben aufs Spiel zu setzen, bleibt unerzählt. So wirkt er, wie auch die anderen Charaktere, etwas blass im Vergleich zur intensiven, ironisch scharfen Figurenzeichnung in Grjasnowas vorherigen Romanen „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ und „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Die 33-jährige Schriftstellerin beschränkt sich diesmal darauf, nüchtern, reportagenhaft wie eine Chronistin den immer brutaleren, unberechenbaren Verlauf des Krieges zu schildern.