Flohmarkt der Deutungshoheit

Von Friedrich C. Burschel

Flohmarkt der Deutungshoheit

Eine neue Rassismus-Debatte und Kritik an umstrittenen Critical-Whiteness-Ansprüchen strapaziert eine defizitäre linke Streitkultur.

„Ich weiß nicht ob ich für mehrere von uns spreche, aber mein schweigen bedeutet so gar nicht, dass ich akzeptiere, was bestimmte Personen äußern. Ich bin immer wieder ganz schön wütend und manchmal schier baff über die an- und übergriffige sprache und krassen sprüche… (…) in einem nichtvirtuellen raum würde ich wahrscheinlich versuchen, ein stop zu setzen, per mail finde ich das nicht so einfach“, schrieb am 3. Juli Grit und markiert damit das vorläufige Ende einer zum Teil turbulenten Diskussion auf der großen Berliner [reflect]-Mailingliste mit etlichen tausend Mitgliedern. Über Wochen tobte ein Schlagabtausch zwischen People of Color (PoC) und weißen Counterparts, die sich mit ihrem Weißsein kritisch auseinanderzusetzen versuchten oder dies ganz bewusst nicht taten. Dabei illustrierte die ganze Diskussion einen Moment völliger Blockade und Versteinerung, der dem Ende eines Prozesses ähnlicher war als einem Aufbruch zu neuen gemeinsamen Kämpfen.

Für den Zustand einer linken Streitkultur und festgefahrener Diskurse ist es durchaus bedeutsam, wo diese Schlammschlacht stattfand. Die durchaus angesagte [reflect]-Mailingliste ist über weite Strecken linke Terminbörse und Flohmarkt und die rührigen Betreiberinnen und Betreiber legen großen Wert darauf, dass sie kein Raum für ausufernde Diskussionen ist. Sie verweisen auch, gerade wenn es, wie bei der jüngsten Eskalation, hoch hergeht, immer wieder auf eine Netiquette, die allzu grobe, zynische und provozierende Ausfälle, oft aber auch unüberlegte und impulsive Beiträge verhindern soll.

Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war eine Veranstaltung von kritisch-lesen.de, einem Internetportal für Rezensionen, am 9. Mai 2012 im Liniencafé, einem kollektiv geführten Betrieb in einem Hausprojekt in Berlin Mitte. Eingeladen war der zu den Themen Linksradikalismus und Antirassismus gefragte Autor und Aktivist Gabriel Kuhn zu einem Vortrag mit Diskussion unter der Überschrift „Whiteness ist not abolished in a workshop, it is abolished in struggle“.

Während des Events kam es zu einem „rassistischen Effekt“, wie die Veranstalter es in ihrer vorsichtigen Stellungnahme nannten. Eine Woman of Color (WoC) war im Laufe der Diskussion nach dem Vortrag des Referenten, der dann in die Moderatoren-Rolle geschlüpft war, mit dem Hinweis unterbrochen worden, dass noch weitere Rednerinnen und Redner auf der Liste stünden. Die betroffene Person war empört und verließ, nachdem auch niemand der Anwesenden intervenierte, wütend das Lokal. Nach einem offenbar misslungenen Versuch, das Geschehene aufzuarbeiten, passierte erst mal lange nichts. Dann entschuldigte sich das Kneipen-Kollektiv „in aller Form für diesen untragbaren Vorfall“: „Wir haben uns im Vorfeld dem Privileg hingegeben, bestehende Bedenken bezüglich gewisser Problematiken (…) nicht zu beachten und haben (…) nicht gut reagiert.“

(der ganze Artikel im PDF Format)