Die Grenzen verbrennen

Von Bernd Kasparek

Die Grenzen verbrennen

Tunesien, Lampedusa, Schengen

In der Folge der Ereignisse in Nordafrika im Frühjahr dieses Jahres kam es zu Aufsehen erregenden und erfolgreichen Überschreitungen der europäischen Außengrenze im Mittelmeer. Es waren die ersten Ausläufer der Revolution, die Europa erreichten. Das Aufbegehren in der Krise der Staatsfinanzen hat sich danach auch im südlichen Europa formiert. Die Forderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit sind über den Umweg Nordamerika mittlerweile auch in Nordeuropa angekommen. Doch auch die erste – nennen wir sie ruhig migrationäre – Bewegung hat grundlegende Politiken des Ein- und Ausschlusses in Europa in Frage gestellt und Reaktionen herausgefordert.

Harraga – die die Grenzen verbrennen – heißen die klandestinen Migrierenden in Nordafrika. Der Name kann auch gelesen werden als „jene, die die Straßen hinter sich verbrennen“, also ihre Verbindungen abbrechen und bewusst in Kauf nehmen, dass es kein Zurück gibt. Der Name charakterisiert treffend den Akt der Migration nach Europa, den undokumentierten Sprung über das Mittelmeer. Denn die Grenzen Europas werden nur selten mehrfach überschritten. Wer es schafft, setzt alles daran zu bleiben, wer einmal zurückkehrt aus Europa, der hat seine Chance verspielt. Die Effekte sind bekannt, oftmals werden sie von den Regierungen, die sie verursachen, zumindest billigend in Kauf genommen. Die Illegalisierung, der prekäre Aufenthalt, das Entstehen einer weitgehend ausbeutbaren Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse in Europa, die weitgehende Absenz von sozialen und politischen Rechten, all dies, aber auch viele kleine und größere Kämpfe dagegen wurden vielfach dokumentiert.

Boualem Sansal lässt in seinem Roman Harraga von Sofiane, dem Bruder der Protagonistin, erzählen:

„[Sie] enthüllten mir, dass Sofiane den Weg der Harragas genommen hatte, derer, die die Straße verbrennen. Ich kannte den Ausdruck, es ist der am meisten bekannte des Landes, aber ich hörte ihn zum ersten Mal aus dem Mund eines echten Irren, da läuft es einem kalt den Rücken herunter. Sie sprachen ihn voller Stolz aus, die Straße zu verbrennen war ein Wunder, das nur sie zu vollbringen vermochten. […] Was soll man solchen Dummköpfen entgegnen […]? Ich hätte sie ohne weiteres bei der Polizei denunziert, wäre die nicht gerade der Grund für ihre Demenz gewesen, weil sie sie immer kontrollierte, abtastete, ihnen ins Gesicht spuckte, sie manipulierte. Auf dem Weg der Harragas kehrt man nicht um, ein Sturz zieht den nächsten nach sich, härter, trauriger, bis zum finalen Sprung. Wir bekommen es zu sehen, die Satellitensender bringen die Bilder von ihren Körpern in die Heimat zurück, auf die Felsen gespült, von den Wellen hin und her geworfen, erfroren, erstickt, zerquetscht, im Fahrwerksschacht eines Flugzeugs, im Laderaum eines Schiffes oder auf der Ladefläche eines verplombten Lastwagens. Die Harragas haben für uns neue Arten des Sterbens erfunden, als ob wir nicht schon genug hätten. Und diejenigen, denen die Überfahrt gelingt, verlieren ihre Seele im schlimmsten Königreich, das es gibt, in der Heimlichkeit. Was für ein Leben ist das Leben im Untergrund?

(der ganze Artikel im PDF Format)