Kritik am Rechtsextremismus und der Kritik daran

Eine Rezension von Nikolai Schreiter

Die Wiener „Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) hat ihren ersten Sammelband herausgegeben. „Rechtsextremismus“, so der Titel, bedeutet in Österreich etwas anderes als in
Deutschland – nicht nur deswegen ist er lesenswert.

Wenn eine Rezension zu schreiben ist und man sich nicht entscheiden kann, welche der neun Kapitel man zuerst, welche vielleicht gar nicht lesen will, ist das ein gutes Zeichen. Im Fall des vorliegenden Sammelbandes „Rechtsextremismus. Entwicklungen und Analysen – Band 1“ spiegelt sich darin die Relevanz der behandelten Themen: Akteure, Theorie, Dokumentation und Antifa, alles ist drin. Einem Publikum, das „Rechtsextremismus“ in erster Linie als totalitarismustheoretischen Kampfbegriff aus Deutschland kennt, der allen, um damit auch „linken Extremismus“ in Abgrenzung zur „freiheitlich- demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik verwirft, sei der Einstieg mit Bernhard Wei- dingers Text „Verteidigung des Rechtsextremismusbegriffs gegen seine Proponent*innen“ empfohlen.

Darin entfaltet er die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem österreichischen Begriff, zwischen der Apologetik der „politischen Mitte“ und dem kritischen Rechtsextremismusbegriff. Den verwendet auch die herausgebende Wiener Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) und fasst ihn als „militante Steigerungsform der zentralen Werte und Ideologien spätbürgerlicher Gesellschaften“ zusammen. In Österreich verläuft „die Grenze zwischen legalem Rechtsextremismus und militanten Neonazis- mus“ entlang des NS- Verbotsgesetzes. Heribert Schiedel vollzieht in seinem Beitrag „National und liberal verträgt sich nicht“ diesseits wie jenseits dieser Grenze die ide- ologischen Machtverschiebungen in der FPÖ nach, die in Umfragen regelmäßig die stärkste österreichische Partei ist.

Irre Biologisierung des Sozialen

Judith Goetz spart in ihren lesenswerten Beiträgen nicht mit wohl argumentierter Kritik sowohl an der Forschung über Rechtsextremismus als auch am politischen Kampf dagegen: Die Forschung weise „blinde Flecken im Bezug auf die Kategorie Geschlecht“ auf. Ein zentrales Element von Rechtsextremismus ist die Naturalisierung und Biologisierung gesellschaftlicher, also menschlich geschaffener Ungleichheiten. Wenn Rechtsextreme also Angriffe auf das naturalisierte Geschlechterverhältnis zuließen, würde mit dessen „Unveränderlichkeit“ auch die „Unveränderlichkeit“  anderer naturalisierter gesellschaftlicher „Tatsachen“, etwa die der „Volksge- meinschaft“, Schaden nehmen. Die naheliegende Frage danach, warum gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur im Rechtsextremismus ideologisch als natürlich betra- chtet werden, bearbeitet der Band leider nicht explizit. Sie wären Dreh- und Angelpunkt des im Buch sehr wohl analysierten Zusammenhangs zwischen bürgerlicher und rechtsextremer Ideologie.

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