Italien liegt in Europa

Von Domink Bender

Italien liegt in Europa

In Italien sind Flüchtlinge einer verheerenden Situation ausgesetzt. Aufgrund des Dublin-Systems, das festlegt, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag im EU-Einreiseland stellen müssen, werden Asylsuchende auch aus Deutschland wieder nach Italien zurückgeschoben. Eine Sammlung erschütternder O-Töne von überwiegend minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gibt Auskunft über die italienischen – und europäischen – Zustände.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 19.10.2011 (Az. 64208/11) erstmals eine Dublin-Abschiebung aus Deutschland nach Italien gestoppt. Der EGMR hat der deutschen Bundesregierung in diesem Rahmen unter anderem folgende Frage zur Beantwortung vorgelegt: „Besteht angesichts der vom Beschwerdeführer vorgelegten Berichte und Schilderungen die ernstzunehmende Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung nach Italien einer Verletzung in seinen Rechten aus Art. 3 Europäischen Menschenrechtskonvention ausgesetzt wird?“

Dem „Statement of Facts“, das der EGMR wenige Tage später zu dem Fall veröffentlicht hat lässt sich entnehmen, dass sich in ihm die in der deutschen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung seit etwa einem Jahr kontrovers geführte Debatte über die Zulässigkeit von Dublin-Abschiebungen nach Italien in ganz besonderer Weise zugespitzt hat: Die aus Syrien stammende Familie kurdischer Volkszugehörigkeit wurde nach ihrer Einreise nach Deutschland auseinandergerissen – der Familienvater musste sich nach Nordrhein-Westfalen begeben, seine Frau und Kinder hingegen nach Sachsen-Anhalt. Auf diese Weise entstand eine für den Fall folgenreiche Aufspaltung der gerichtlichen Zuständigkeit. Da die Familie über Italien in die Europäische Union eingereist war und dort auch Fingerabdrücke hinterlassen hatte, leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Verfahren zur Abschiebung der gesamten Familie dorthin ein. Alle Familienmitglieder setzten sich mit Rechtsbehelfen gegen die drohende Abschiebung zur Wehr. Und nun zeigte die Aufspaltung der gerichtlichen Zuständigkeit ihre Folgen: Während sich Frau und Kinder erfolgreich beim Verwaltungsgericht Magdeburg gegen die Abschiebung nach Italien wehrten, erklärte das für den Ehemann und Vater zuständige Verwaltungsgericht Münster die Abschiebung nach Italien für zulässig. Der Riss, der im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit von Italien-Abschiebungen seit 2010 – ähnlich wie in den Jahren 2008 und 2009 bezüglich der Griechenland-Abschiebungen – durch die unterinstanzliche verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung geht, ging nun plötzlich auch direkt durch eine Familie! Das Bundesverfassungsgericht, vom Rechtsanwalt des Familienvaters auf den ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster hin angerufen, hatte an der bevorstehenden Trennung der Familie und der Abschiebung des Ehemannes und Vaters nach Italien nichts auszusetzen. Wohl aber bekanntermaßen der EGMR, auf dessen endgültige Entscheidung in dem Fall nun mit Spannung gewartet werden kann.

Erschütternde Vorort-Recherchen

Der Fall gibt Anlass dazu, sich noch einmal die Dramatik der Situation in Italien vor Augen zu führen und sich in Erinnerung zu rufen, warum Pro Asyl, die Schweizerische Flüchtlingshilfe zusammen mit der norwegischen Nichtregierungsorganisation Jussbuss, die norwegische Nichtregierungsorganisation NOAS sowie der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates Thomas Hammarberg, aber auch zum Beispiel das Europamagazin des SWR und die Sendung „Weltbilder“ des NDR, Vorort-Recherchen in Italien unternahmen und von ihnen berichteten: Es waren die glaubhaften und erschütternden Berichte derer, die als Asylsuchende monatelang, teilweise jahrelang, in Italien um ihr Überleben gekämpft und sich schließlich zu einer Flucht aus dem italienischen Elend in ein anderes europäisches Land – darunter auch oft Deutschland, die Schweiz und Norwegen – entschieden hatten. Die Berichte dieser Menschen zu dokumentieren ist umso dringender notwendig, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Dublin-Verfahren in aller Regel auf die Anhörung (das „Interview“) der Betroffenen vollständig verzichtet, so dass es keine Kenntnis von den Hintergründen der jeweiligen Weiterflucht erhält. Es soll ja „nur“ – so die Idee hinter dem vollständigen Amtsermittlungsausfall – in ein anderes europäisches Land abgeschoben werden. An dieser Haltung des BAMF haben die zahlreichen belastbaren Belege für die dramatische Situation in Italien und auch die Vielzahl der verwaltungsgerichtlichen Aussetzungsbeschlüsse nichts ändern können – die jüngste Entscheidung des EGMR wird es wohl auch nicht tun. In der Folge sollen daher die Zitate von Betroffenen wiedergegeben werden, die teilweise auch in dem von Pro Asyl veröffentlichten Bericht zur Situation von Flüchtlingen in Italien aufgegriffen werden. Sie stammen ganz überwiegend von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, für deren rechtliche Vertretung ich als Ergänzungspfleger (d.h. als vom Familiengericht beauftragter Rechtsanwalt) verantwortlich bin. Die Zitate sind in chronologische Reihenfolge von der Flucht nach Italien bis zur Flucht aus Italien gebracht.

(der ganze Artikel im PDF Format)