Die Rattenlinie

Von Marianne Walther

Dieses Heft ist gefüllt mit Geschichten von Menschen, die vor Zerstörung, Chaos und Gewalt Rettung an einem anderen Ort suchen.

Manchmal fliehen aber auch diejenigen, die verantwortlich sind für das Elend, vor dem andere die Flucht ergreifen müssen: Unter ihnen sind Machthaber, Diktatoren, Kriegsverbrecher*innen und Gewalttäter*innen. Die Fluchten der Täter*innen stehen dabei zumeist im starken Kontrast zu den Migrationsgeschich- ten ihrer Opfer. Denn anders als ihre Opfer verfügen sie nicht selten über Mittel, Netzwerke und Verbün- dete in aller Welt und verschiedenen Institutionen, die es ihnen leicht machen, sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft dauerhaft zu entziehen.

Eine dieser Geschichten, nämlich die der Flucht von Nazis vor der Nachkriegsjustiz, erzählen wir hier. Denn gerade in dem Gegensatz zu den anderen Geschichten dieses Heftes wird die beschämende Entsolidarisierung der Weltgesellschaft mit denjenigen deutlich, die – anders als die Täter*innen – Schutz und Hilfe verdient hätten.

Von Marianne Walther

Rattenlinien – so nannten die US-Amerikaner*-innen die Fluchtrouten, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg tausende Nazis, Ustascha-Faschist*innen und Vertreter*innen anderer europäi- scher Kollaborationsregime nach Lateinamerika flohen. Wie die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, entkamen auf diesem Weg einige der größten NS- Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann, Klaus Barbie, Josef Mengele, Erich Priebke und Walter Rauff der Justiz. Eines der Hauptaufnahmeländer wurde Argentinien unter dem damaligen Präsidenten Juan Domingo Perón: Rund 500 höhere NS-Funktionäre und 50 Massenmörder fanden dort eine neue Heimat.

Möglich machte dies ein weitverzweigtes und hoch organisiertes Netzwerk von staatlichen und nicht- staatlichen Organisationen, dessen Wurzeln von Skandinavien bis in den Vatikan reichten. Ein zentrales Drehkreuz für die Weiterreise der meisten Flüchtenden nach Nord- und Südamerika, Spanien oder in den Mittleren Osten war Italien. Insbesondere die deutschsprachige, von Alliierten nicht besetzte Alpenregion wurde zu einem wichtigen Zwischen- stopp auf dem Weg zu Italiens Häfen. Tausende Kriegsverbrecher*innen statteten sich hier mit neuen Papieren aus, um ihre Flucht aus Europa fortsetzen zu können. Während sie nach Italien zwar auch ohne Pass gelangten, mussten sie für internationale Reisen zum Beispiel per Schiff nach Südamerika ein gültiges Reisedokument präsentieren – welches Deutsche, insbesondere solche mit NS-Bezügen, in der Nach- kriegszeit nach alliierten Bestimmungen offiziell nicht erhielten. Hier kam das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ins Spiel: Zwischen 1945 und Anfang 1950 stellte das IKRK mindestens 120.000 Ersatz-Reisepässe für „staatenlose“ Flüchtlinge aus, ohne deren Identität näher zu überprüfen.

Eine wichtige Rolle spielte dabei auch der Vatikan, weshalb lange auch der Begriff „Klosterrouten“ für die Rattenlinien benutzt wurde. Das päpstliche Hilfswerk Pontificia Commissione Assistenza (PCA) in Rom, das von Papst Pius XII die Gefangenen- und Flüchtlings- fürsorge übertragen bekommen hatte, bestätigte die Identität der Flüchtenden gegenüber dem Roten Kreuz. Hierfür genügte ein einfaches Empfehlungs- schreiben. So gelangten tausende Schwerstver- brecher*innen, Holocaust-Täter*innen und NS- Funktionär*innen an neue Identitäten und Papiere, die ihnen die Ausreise und Flucht vor der Gerichtbarkeit ermöglichten.

(der ganze Artikel im PDF Format)