Bayern lebenslänglich

Von Dorothee Chlumsky und Alban Knecht

Bayern lebenslänglich

Wir besuchen Helena Niekrasova und Lew Vorontsov in ihrer kleinen Wohnung. Die beiden führen uns ins Wohnzimmer. Linoleumboden, Neonlicht, an den Wänden kein Schmuck. Den Mittelpunkt des Raums bilden zwei gegenüberliegende Computerarbeitsplätze. Herr Vorontsov holt Stühle aus der Küche, damit wir uns alle setzen können. Während des Gesprächs suchen unsere GastgeberInnen immer neue Kopien, Briefe und offizielle Papiere hervor. Dieses Wohnzimmer mit seinen Computern, Regalen und Schränken voller Akten scheint das Archiv einer nicht enden wollenden Irrfahrt zu sein.

Nach Deutschland kommen die russischen Eheleute im Oktober 1990 durch eine kleine Tür am Grenzübergang der Autobahn Salzburg. Nachdem die beiden in der Sowjetunion einen Ausreiseantrag gestellt haben, erhalten sie im August 1990 die Aufforderung, ihre Heimat binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen, „in beliebige Richtung“. Also steigen sie in einen Zug nach Jugoslawien. Mit ihrem neuen Status als Staatenlose bekommen sie dort ein Visum für drei Monate. Während der Wochen, die sie dort in einem Flüchtlingslager verbringen, wird ihnen in Genf der Status als politische Flüchtlinge zugesprochen. „Wir waren sehr gut aufgehoben in diesem UNO-Flüchtlingslager, 1990. Doch dann wurde uns vorgeschlagen weiterzufahren, ins Innere von Jugoslawien, weil das Lager für die Ankunft von kosovarischen Flüchtlingen vorbereitet werden sollte. Ein Mann im Lager sagte uns, es werde dieser Tage sowieso zum Bürgerkrieg kommen, und dass es für alle Ausländer gefährlich sei, in einem solchen Gebiet zu sein. Da haben wir den Lagerchef gefragt, was wir machen sollen. Er riet uns, nach Deutschland zu fahren.“

Mit dem Zug fahren sie über Zagreb nach Maribor und überqueren die grüne Grenze nach Österreich. In Salzburg erklärt ihnen ein Taxifahrer, wie sie zu Fuß auf einem geheimen Weg zwischen Autobahn und Bundesstraße über die Grenze nach Deutschland kommen. Als sie in Piding eine Dame fragen, wo der Bus nach München abfährt, erklärt sie ihnen, dass an diesem Sonntag kein Bus mehr fährt – und bringt sie kurzerhand mit ihrem Auto nach München. Sie wundert sich noch, dass sich die beiden gleich bei der Polizei melden wollen. „Ja, wir haben keine Angst vor der Polizei, das ist keine russische Miliz.“ Die Polizei vermittelt sie für die Nacht an die Rote-KreuzMission und schickt sie in die Ausländerbehörde. Dort rät man ihnen, einen Asylantrag zu stellen.

18 Jahre bayerische Lager

Die ersten vierzehn Tage wohnen die beiden in einem Lager in der Münchener Untersbergstraße, dann werden sie Altötting zugewiesen. Zunächst wohnen sie in einem früheren Altenheim, dem ehemaligen Marienstift. „In Altötting war überhaupt kein Platz für Asylbewerber. In den frühen 1990ern gab es eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende in Deutschland. Die Regierung von Oberbayern hatte das Gebäude für zwei Jahre angemietet. Dann wurde es abgerissen, auf dem Gelände Eigentumswohnungen gebaut. Wir wurden 1992 von Altötting nach Mühldorf umgesiedelt, dort waren wir auch zwei Jahre; dann sind wir nach Zandt im Landkreis Eichstätt gekommen, dort waren wir bis 2000.“ Wir fragen, ob sie die ganze Zeit in Asyllagern zugebracht haben. „Immer in Asyllagern“ antwortet Frau Niekrasova und Herr Vorontsov ergänzt: „Achtzehn Jahre lang.“ „Alle waren ganz verschieden. Manche waren sehr gut, aber das Zimmer war klein. Manche hatten kleine Zimmer, acht Quadratmeter, aber wir hatten eine eigene Toilette und Dusche, das war schon gut. Andere waren ausgestattet mit Gemeinschaftstoiletten und Duschen – oder sagen wir: praktisch ohne Duschen, weil oft der Brausekopf weg war, oder der Schlauch. Zum Teil gab es keine Türen oder Fenster ohne Fensterscheiben in den Zimmern.“

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