Ausgabe Nr. 55 | fluchtwege

Liebe Leser*innen

eigentlich sind sie so alltäglich, dass sie gar nicht mehr auffallen. In der U-Bahn, im Bürogebäude, in der Behörde, im Kino, im Club. Im Hotel hängen sie sogar als kleine Grundrissskizzen in jedem Zimmer. Im Ferienflieger fallen sie wieder etwas mehr auf, wenn das Flugpersonal sie zwischen der Begrüßung und der Erläuterung der richtigen Benutzung der Sauerstoffmasken mit ausladenden Gesten aufzeigt: Fluchtwege.

Wenn es um Brandschutz und Sicherheit geht, sind Fluchtwege gut ausgeschildert, beleuchtet und müssen stets freigehalten werden. Wenn Menschen vor Krieg und Verfolgung oder vor Hunger und Armut fliehen, werden ihnen die Fluchtwege versperrt. Dann werden keine Fluchtwege ausgewiesen. Stellt euch einmal vor, die Polizei würde aus einem brennenden Haus flüchtende Menschen wieder hineindrängen, auf sie schießen, die Türen versperren und die helfende Feuerwehr verhaften.
Nicht nur an den europäischen Außengrenzen und nicht nur auf dem Mittelmeer passiert genau das tagtäglich. Dieses Jahr sind nach Schätzungen von Hilfsorganisationen mindestens 2.500 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Und das sind noch – entschuldigt das Wort in diesem Kontext – optimistische Schätzungen, die wirkliche Zahl dürfte weit höher liegen. Bezüglich der Fluchtwege durch die Sahara und das nördliche Afrika sind die Opferzahlen noch schwerer zu erfassen.
Zivile Rettungs- und Hilfsorganisationen wie Mission Lifeline im Mittelmeer oder Alarme Phone Sahara in Nordafrika sind oftmals die einzige Unterstützung, die Menschen auf der Flucht erhalten. Staatliche Institutionen und rechte Medien diffamieren diese Organisationen gerne als Schlepper*innen und Schleuser*innen. Was an der Hilfe zur Flucht allerdings schlecht sein soll, ist eurer Lieblingsredaktion nicht klar. Es ist an der Zeit, die Fluchthilfe wieder positiv zu besetzen – not all heroes wear capes …

Die meisten Fluchtwege führen aber nicht nach Europa. Es ist ein klassischer eurozentristischer Irrglaube, der auch gerne von Rechtspopulist*innen und Rechtsextremist*innen befeuert wird, dass alle Geflüchteten dieser Welt nach Europa kommen wollen – und Friedrich Merz deswegen keinen Zahnarzttermin mehr bekommt. Die meisten Flucht- und Migrationsbewegungen finden innerhalb Afrikas, Asiens oder auch Lateinamerikas statt. Dass „die ganze Welt nach Deutschland kommen will“, ist nichts weiter als ein ebenso paranoides wie propagandistisch geschicktes Hirngespinst der politischen Rechten.
Wir von der Hinterland hätten kein Problem, wenn die ganze Welt über das Meer zu uns kommt, solange solche Personen wie Alice Weidel über das Meer nach Mallorca fliehen (sorry, ihr armen Mallorquiner*innen) und hier nie mehr gesehen werden.

Bis dahin: Haltet die Fluchtwege frei. Eure Wegbegleiter*innen von der Hinterland-Redaktion

Hoffnung in der Dunkelheit

August 2021: Innerhalb kürzester Zeit übernehmen die Taliban wieder die Macht in Afghanistan. Bereits während ihrer vorherigen Herrschaft wurden besonders Mädchen und Frauen mit tiefgehenden Ein- schränkungen ihrer Grundrechte konfrontiert. Auch jetzt ist es wieder höchst gefährlich als Frau einfach nur zu existieren. Eine Gruppe afghanischer Frauenrechtsaktivistinnen, die nach Deutschland evakuiert wurden oder sich noch in Afghanistan befinden, versuchen mit dem Kunstprojekt Hope in Darkness die afghanischen Frauen mit der Welt zu verbinden.

Ein Interview mit Shiwa, Frauenrechtaktivistin und Soziologin. Illustrationen: Arbeiten der Wanderausstellung Hope in Darkness

Worum geht es bei dem Projekt Hope in Darkness?

Mit dem Projekt möchten wir jungen Frauen in Afghanistan die Möglichkeit geben, ihre Erfahrungen, ihre Gefühle, Hoffnungen und Forderungen durch Kunst ausdrücken zu können. Es haben sich 35 junge Künstlerinnen beteiligt und trotz großer Risiken Kunstwerke geschaffen, die wir auf geheimen Wegen nach Deutschland gebracht haben. Jetzt machen wir damit eine Ausstellung, die in verschiedenen Städten gezeigt wird.

Wie entstand die Idee dazu?

Ich habe bereits zu meiner Zeit in Afghanistan darüber geforscht welche Auswirkungen die Herrschaft der Taliban auf das Leben afghanischer Mädchen und Frauen hat. Doch die aktuelle Situation lässt sich nicht alleine durch Forschung wiedergeben. Noch dazu ist der Zugang zur Wissenschaft eingeschränkt. Durch die Kunst möchten wir den Menschen Hoffnung geben. Unter dem letzten Taliban-Regime wurde Kunst von den Taliban getötet. Wir wollten die Kunst dieser Zeit lebendig erhalten und sie zur Vermittlung von Emotionen nutzen. Die Situation war schwierig und unter den Taliban kam es jeden Tag zu mehr und mehr Ein- schränkungen. Die internationale Gemeinschaft hat Afghanistan vergessen. Sie denken nicht darüber, sie sprechen nicht darüber. Speziell Frauen in Afghanistan. Sie sind jetzt in ihren Häusern. Sie dürfen nicht arbeiten. Sie dürfen nicht weiter zur Schule gehen oder studieren. Sie sind nur zu Hause.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Der Staat gegen den Staat

In der westsaharischen Stadt Laayoune treffen westafrikanische Migrant*innen
auf schikanierende Polizeipraxis, geleitet durch außenpolitische Interessen und Rassismus. Hamza Safouane führte dort im Herbst 2022 im Rahmen des Forschungsprojekts Transnational Perspectives on Migration and Integration (TRANSMIT) ausführliche Interviews mit senegalesischen Migrant*innen und Vertreter*innen migrantischer Selbstorganisationen, um zu erfahren, was dies für ihre Lebenssituation bedeutet und wie sie damit umgehen.

Von Dr. Hamza Safouane

Laayoune ist mit etwas mehr als 210.000 Einwohner*innen die größte Stadt der Westsahara. Die Stadt liegt an der Küste gegenüber den spanischen Kanarischen Inseln und ist bekannt als Ausgangspunkt für Migrant*innen, die sich auf den Weg zum spanischen Archipel machen wollen. Viele von ihnen haben sich in Skikima niedergelassen, einem armen Viertel unweit der Hauptverkehrsstraße der Stadt, in dem auch mehrere Migrant*innen-Vereine ihren Sitz haben.
Während Migrant*innen zum Beispiel aus Senegal, Elfenbeinküste oder Guinea in nördlicheren Städten Marokkos zu einem festen Bestandteil des Stadtbildes geworden sind und eine wichtige Rolle für die Wirtschaft spielen, fällt in Laayoune und der benachbarten Stadt El Marsa sofort auf, dass generell keine westafrikanischen Migrant*innen auf den Straßen zu sehen sind. Weder flanieren sie durch die Straßen, noch plaudern sie auf den Plätzen oder sitzen in einem der zahllosen Cafés, die die Hauptalleen von Laayoune säumen.

Der Grund hierfür: Sobald sich Menschen versammeln, die den Anschein erwecken, aus Ländern südlich der Sahara zu stammen – was in Marokko oft bedeutet, dass sie dunkelhäutig sind –, können sie von der Polizei kontrolliert und vertrieben werden. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie sich auf den Straßen nur zeigen, wenn sie ein bestimmtes Ziel haben. Ihre Wege dienen der Arbeit, dem Handel, der Schule, der Gesundheit, der Verwaltung oder dem Einkaufen; sie gehen nur aus, wenn sie es müssen. Für sie herrscht ein allgemeines Klima der Angst.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Die Rattenlinie

Dieses Heft ist gefüllt mit Geschichten von Menschen, die vor Zerstörung, Chaos und Gewalt Rettung an einem anderen Ort suchen.

Manchmal fliehen aber auch diejenigen, die verantwortlich sind für das Elend, vor dem andere die Flucht ergreifen müssen: Unter ihnen sind Machthaber, Diktatoren, Kriegsverbrecher*innen und Gewalttäter*innen. Die Fluchten der Täter*innen stehen dabei zumeist im starken Kontrast zu den Migrationsgeschich- ten ihrer Opfer. Denn anders als ihre Opfer verfügen sie nicht selten über Mittel, Netzwerke und Verbün- dete in aller Welt und verschiedenen Institutionen, die es ihnen leicht machen, sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft dauerhaft zu entziehen.

Eine dieser Geschichten, nämlich die der Flucht von Nazis vor der Nachkriegsjustiz, erzählen wir hier. Denn gerade in dem Gegensatz zu den anderen Geschichten dieses Heftes wird die beschämende Entsolidarisierung der Weltgesellschaft mit denjenigen deutlich, die – anders als die Täter*innen – Schutz und Hilfe verdient hätten.

Von Marianne Walther

Rattenlinien – so nannten die US-Amerikaner*-innen die Fluchtrouten, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg tausende Nazis, Ustascha-Faschist*innen und Vertreter*innen anderer europäi- scher Kollaborationsregime nach Lateinamerika flohen. Wie die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen, entkamen auf diesem Weg einige der größten NS- Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann, Klaus Barbie, Josef Mengele, Erich Priebke und Walter Rauff der Justiz. Eines der Hauptaufnahmeländer wurde Argentinien unter dem damaligen Präsidenten Juan Domingo Perón: Rund 500 höhere NS-Funktionäre und 50 Massenmörder fanden dort eine neue Heimat.

Möglich machte dies ein weitverzweigtes und hoch organisiertes Netzwerk von staatlichen und nicht- staatlichen Organisationen, dessen Wurzeln von Skandinavien bis in den Vatikan reichten. Ein zentrales Drehkreuz für die Weiterreise der meisten Flüchtenden nach Nord- und Südamerika, Spanien oder in den Mittleren Osten war Italien. Insbesondere die deutschsprachige, von Alliierten nicht besetzte Alpenregion wurde zu einem wichtigen Zwischen- stopp auf dem Weg zu Italiens Häfen. Tausende Kriegsverbrecher*innen statteten sich hier mit neuen Papieren aus, um ihre Flucht aus Europa fortsetzen zu können. Während sie nach Italien zwar auch ohne Pass gelangten, mussten sie für internationale Reisen zum Beispiel per Schiff nach Südamerika ein gültiges Reisedokument präsentieren – welches Deutsche, insbesondere solche mit NS-Bezügen, in der Nach- kriegszeit nach alliierten Bestimmungen offiziell nicht erhielten. Hier kam das Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ins Spiel: Zwischen 1945 und Anfang 1950 stellte das IKRK mindestens 120.000 Ersatz-Reisepässe für „staatenlose“ Flüchtlinge aus, ohne deren Identität näher zu überprüfen.

Eine wichtige Rolle spielte dabei auch der Vatikan, weshalb lange auch der Begriff „Klosterrouten“ für die Rattenlinien benutzt wurde. Das päpstliche Hilfswerk Pontificia Commissione Assistenza (PCA) in Rom, das von Papst Pius XII die Gefangenen- und Flüchtlings- fürsorge übertragen bekommen hatte, bestätigte die Identität der Flüchtenden gegenüber dem Roten Kreuz. Hierfür genügte ein einfaches Empfehlungs- schreiben. So gelangten tausende Schwerstver- brecher*innen, Holocaust-Täter*innen und NS- Funktionär*innen an neue Identitäten und Papiere, die ihnen die Ausreise und Flucht vor der Gerichtbarkeit ermöglichten.

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Zeit – Europas Waffe gegen Menschen auf der Flucht

Verzögerungen bei der Rettung von Menschen im Mittelmeer sind kein politisches Versagen der Europäischen Union (EU). Sie sind eine absichtliche, grausame Strategie.

Von Maurice Stierl

Internationale Organisationen schätzen, dass in diesem Jahr bisher etwa 1.800 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute starben – die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen. Wenn Boote mit Menschen auf der Flucht drohen im Mittelmeer zu kentern, ist die Geschwindigkeit von Rettungseinsätzen entscheidend. Jede Verzögerung kann zu schweren körperlichen Schäden führen oder Menschenleben kosten. In derartigen Situationen schnellst- möglich Rettungsmaßnahmen einzuleiten, ist jedoch keine Priorität der EU.

In einer kürzlich im Journal Security Dialogue erschienenen Studie argumentiere ich, dass Zeit immer mehr zu einer Waffe im mediterranen Migrationsmanagement geworden ist. Um die Ankunft von Geflüchteten in Europa zu verhindern, haben die EU und ihre Mitgliedstaaten im vergangenen Jahrzehnt nach immer neuen Möglichkeiten gesucht, Rettungs- einsätze gezielt zu verlangsamen und gleichzeitig Abfangaktionen vor Libyen zu beschleunigen. Unterlassene Hilfeleistung hat System, und Zeit ist dabei eine Waffe der EU.

Das Ende der italienischen humanitär-militärischen Operation Mare Nostrum im Jahr 2014 markierte einen Wendepunkt. Als Reaktion auf ein verheerendes Schiffsunglück am 3. Oktober 2013 nahe Lampedusa beschleunigte diese Operation europäische Rettungsmaßnahmen vor der libyschen Küste und führte so zur Rettung von etwa 150.000 Menschen. Kritiker*innen brandmarkten Mare Nostrum allerdings als „Pull-Faktor“, der Anreize für die Flucht über das Mittelmeer schaffen würde. Die Operation wurde beendet und machte den Weg frei für eine Reihe europäischer Operationen, die mit der Verzögerung von Rettungseinsätzen experimentierten.

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foto: Moctar Dan Yaye