Ausgabe Nr. 35 | stop deportation

 

„Eine Abschiebung kann man nicht rückgängig machen.“
(Jonathan Shapiro)

Liebe Leser*innen,

knappe 20.000 Menschen wurden im Jahr 2015 aus Deutschland abgeschoben; im Jahr 2016 waren es knappe 24.000. Die Gründe dieser Menschen, überhaupt erst nach Deutschland zu kommen, waren so unterschiedlich wie sie selbst – aber gemein ist ihnen, dass sie gegen ihren Willen gewaltsam fortgeschickt wurden.

Man möchte meinen, dass Deutsche eine besondere Sensibilität gegenüber dem Akt gewaltsamer Transportation hätten, aber in dieser Meinung wird man bitter enttäuscht. Statt als sorgfältig abgewogene ultima ratio finden Abschiebungen mit zynischer Alltäglichkeit statt. Menschen werden abgeschoben in Länder, in denen mit Sicherheit Folter, Mord und Vergewaltigung auf sie warten. Menschen werden mit Gewalt aus ihren Schlafzimmern, Schulen und Arbeitsplätzen gerissen. Menschen werden unter verzweifelten Tränen von ihren Eltern, Kindern und Geschwistern getrennt. Wer Widerstand leistet oder protestiert, muss selbst mit Knüppeln und Tränengas rechnen. Die ausführenden Beamten geben süffisant zur Kenntnis, dass sie nur geltendes Recht umsetzen, und waschen ihre Hände in Unschuld. Die Bevölkerung ruht sich in ihrer Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit aus. Im Jahr 2017 ist Deutschland eine Nation von Mitläufer*innen.

Wir sind der festen Überzeugung, dass Deutschlands – und insbesondere Bayerns – Abschiebepraxis menschenunwürdig, rechtsbrüchig und sadistisch ist. Wir sind auch der Überzeugung, dass sie in jeder Hinsicht gesellschaftsschädigend und unnötig ist. Und wir sind mit dieser Überzeugung in unserer kleinen Redaktion nicht alleine. Deswegen findet ihr in dieser Ausgabe Reportagen, Analysen und Argumente, die zeigen, was schiefläuft und wie es besser gehen könnte. T. Ghosh hat für uns Gerichtsprozesse dokumentiert, in denen über Abschiebungen entschieden wird. Birgit Neufert informiert über Kirchenasyl. Hubert Heinhold gibt juristische Tipps für den Fall der Fälle. Und Sebastian Muy bespricht die aktuellen Positionen der Sozialen Arbeit.
Diese Ausgabe macht leider nicht viel Spaß. Aber vielleicht kann sie ein wenig helfen, die Monstrosität einer gesellschaftlichen Dynamik zur Schau zu stellen, die Gefahr läuft, zur Regel zur werden.

Eure Abschiebegegner*innen von der
Hinterland-Redaktion

Warum abgeschoben wird. Und warum das nichts als Unfug ist.

Gerade ist zum zweiten Mal ein Abschiebeflug von Deutschland nach Kabul abgesagt worden. Der außerordentliche Parteitag der SPD im Juni 2017 votierte gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Wo sie aber in Bundes- oder Landesregierungen sitzen, votieren nicht nur SPD-Mitglieder, sondern auch Grüne dafür, Ab- schiebungen nach Afghanistan konsequent weiter durchzuführen. Die Union sowieso. Geflüchtete mit einer sogenannten „geringen Bleibeperspektive“ sind zum Spielball parteipolitischen Kalküls geworden. Ihre Abschiebungen werden um jeden Preis durchgesetzt. Wie es mit ihnen weitergeht, wenn sie zurückgeflogen sind, darum schert sich kaum jemand – vor allem ändert es nichts an der aktuellen Abschiebepraxis.

Für die Umstände, unter denen Abschiebungen aus Deutschland durchgesetzt werden, lassen sich starke Worte finden. Meist findet eine Verletzung grundlegender Menschenrechte statt. Oft wird den Menschen von der Polizei physische Gewalt angetan. Abschiebungen, gerade nach Afghanistan, gefährden die Sicherheit der Abgeschobenen massiv, setzen sie Risiken aus, denen sie nicht aus eigener Kraft entrinnen können, und werfen sie mittellos in eine Elendssituation. Eine solche Situation erlebt gerade im Moment Shams Ahmadi, der bis vor kurzem in Passau lebte. Er ist 24 Jahre alt. Ein Bombenanschlag in seinem Herkunftsland hatte seine Hand verkrüppelt und ihn traumatisiert. Im Winter 2016 verbrachte er einige Wochen in einer Psychiatrie. Er erhielt drei Sorten Psychopharmaka, um nach seiner Entlassung einigermaßen angstfrei leben zu können. Sein Asylantrag wurde abgelehnt.

Am 23. Januar 2017 wurde Shams von der Polizei abgeholt, am Abend in eine Boeing 767 gesetzt und nach Kabul gebracht. Seine Rechtsanwältin hatte in mehreren Eilanträgen beim Verwaltungsgericht, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und zuletzt beim Bundesverfas- sungsgericht versucht, die Abschiebung zu verhindern. Der Richter am Bundesverfassungsgericht erlaubte schließlich die Abschiebung, nachdem die zuständige Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern versichert hatte, Herr Ahmadi habe ausreichend Medikamente dabei, und obendrein den Kontakt zu einer psychosozialen Einrichtung in Kabul. Beides konnte Shams nach seiner Ankunft nicht bestätigen. Er kam ohne Medikamente in Kabul an. Was ihn erwartete, ähnelte einem kalten Entzug, der ihn, zusammen mit der Abschiebeerfahrung, aus seinem mühsam austarierten psychischen Gleichgewicht warf.

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Bayern, Land der Lager. Und der Proteste.

In Regensburg soll zeitnah ein Transitzentrum entstehen. Menschen mit „geringer Bleibeperspektive“ sollen hier nach ihrer Einreise aufgefangen und gleich wieder abgeschoben werden. Die viel beschworene Inte- gration wird somit bereits im Keim erstickt. Doch in Bayern formiert sich Widerstand gegen die Abschiebepolitik. Ein Überblick. Von NoDeportation.Nowhere aus Regensburg.

Als Teil des Sofortprogramms Innere Sicherheit beschloss der bayerische Ministerrat die Einrichtung von Transitzentren in Regensburg, Deggendorf sowie in Ingolstadt/Manching. Das von Sozialministerin Emilia Müller eingebrachte Konzept sieht vor, dass Geflüchtete mit „geringer Bleibeperspektive“ möglichst schnell wieder abgeschoben werden sollen. Ge- flüchtete werden nicht mehr wie früher auf die Kommunen verteilt, sondern in den Transitzentren gesammelt. Mit diesem neuen Verfahren verfolgt die Bayerische Staatsregierung zwei klar formulierte Ziele: Zum einen sollen Abschiebungen durch die zentrale Unterbringung erleichtert werden – liegen doch alle Transitzentren mit guter Anbindung zu Flughäfen. Zum anderen soll durch die gesammelte Unter- bringung verhindert werden, dass sich der Aufenthalt der Geflüchteten in Bayern festigt. Nachzulesen ist dies offiziell online im Bericht aus der Kabinettssitzung vom 21. März 2017.

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Ein Tag im Gericht

Geflüchtete in Deutschland, insbesondere Geflüchtete aus Afghanistan, leben oft in kontinuierlicher Angst vor der Abschiebung. Der Weg zu diesen Abschiebungen ist gepflastert mit psychischem Druck, bangem Warten, amtlichen Bescheiden – und Gerichtsverhandlungen. Drei dieser Verhandlungen hat T. Ghosh für die Hinterland protokolliert.

Gerichtsprotokoll 1

Datum: Mai 2017
Ort: Verwaltungsgericht München
Beginn: 8:00 Uhr
Ende: 9:02 Uhr
Richterin: XXXXX
Kläger: Herr R. aus Afghanistan
Angeklagter: Bundesrepublik Deutschland
Beteiligte: Regierung von Oberbayern, Vertreter des öffentlichen Interesses
Dolmetscher: XXXXX
Klage: Vollzug des Asylgesetzes (AsylG)

Zu Beginn der Gerichtsverhandlung fasst die Richterin (R) das Anhörungsprotokoll des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zusammen: Der Kläger (K) habe in Afghanistan in einem Restaurant mit vielen ausländischen Gästen gearbeitet. Ebenso habe sein Cousin in einem Restaurant gearbeitet, das von vielen ausländischen Gästen besucht wurde. Vor drei Jahren sei der Cousin von der Taliban getötet worden. Außerdem hätten die Eltern Ks Drohbriefe erhalten. Seitdem habe K psychische Probleme.
Zu Beginn stellt R K die Frage, wo sich seine zwei Brüder derzeit befänden. Einer seiner beiden Brüder sei K zufolge auf der Reise von Afghanistan nach Pakistan im Iran geblieben, da sich dort seine Familie befände. Es wurde K zugetragen, dass die Reise der Brüder sich im Jahre 1999 zutrug. 2013 sei der Bruder, der sich im Iran niederließ, nach Afghanistan zurückgekehrt.

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(K)Eine letzte Chance?

Durch die verschärfte Abschiebepolitik der Bundesregierung wenden sich immer mehr geflüchtete Menschen an Kirchen und bitten um Schutz. In einem Bericht aus der Beratungspraxis werden die Möglichkeiten und Grenzen von Kirchenasyl geschildert.

Das Telefon klingelt. Es ist Abdiyo Salah. Sie kommt aus Somalia. In Norwegen hatte sie ihren ersten Asylantrag gestellt. Abgelehnt. Nun soll sie zurück nach Norwegen, weil Deutschland gemäß der europäischen „Dublin III“-Verordnung formal nicht zuständig ist. „Can the church protect me?“, fragt sie. Wenig später die nächste Anfrage. Diesmal per E-Mail. Elisa Fleming unterstützt Geflüchtete in Hamburg. Heute schreibt sie mir von Rima Ahmadi und ihrer Familie. Frau Ahmadi, ihr Mann und ihre zwei Kinder kommen aus Syrien. Sie sollen nach Bulgarien „rücküberstellt“ werden, wie es die „Dublin III“- Verordnung formuliert. Dort hatten sie gezwungenermaßen ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Doch Deutschland erklärt sich für nicht zuständig. Unterlassene medizinische Versorgung, körperliche Gewalt durch die Polizei und rassistische Beschimpfungen auf der Straße: Was die Familie in Bulgarien erlebt hat, steht für das, was Geflüchteten dort regelmäßig widerfährt. Der darauffolgende Tag beginnt, wie der vorige aufgehört hat. Diesmal klingelt ein junger Mann aus Afghanistan an der Tür. Jawad Aziz steht mit gepackten Sachen vor meinem Büro. Er begrüßt mich zurückhaltend und freundlich und äußert dann sofort sein Anliegen: „Ich brauche Kirchenasyl.“

Diese und ähnliche Szenen finden zurzeit in ganz Deutschland statt. Immer mehr Menschen wenden sich an Kirchengemeinden und Beratungsstellen und bitten um Hilfe. Immer mehr Menschen sollen abgeschoben werden – in ihr Ankunftsland in Europa oder in ihr Herkunftsland, nach Italien, Ungarn, Afghanistan oder Mazedonien. Die politische Linie ist klar und deutlich: Es geht um Abschreckung, nicht um Aufnahme. Es geht um Symbolpolitik, nicht um Realitäten. Es geht um Zahlen, nicht um Menschen. Je mehr Menschen in menschenunwürdige oder sogar lebensbedrohende Verhältnisse abgeschoben werden oder werden sollen, desto mehr wenden sich hilfesuchend an die Kirche, das heißt an die vielfältigen Akteur*innen in den evangelischen Landeskirchen, den katholischen Diözesen und Bistümern sowie Freikirchen. Sie bitten Pastor*innen, Kirchengemeinden und kirchliche Beratungsstellen um Unterstützung. Durch die verschärfte Abschiebepolitik der Bundesrepublik Deutschland und der europäischen Staatengemeinschaft erhöht sich somit auch der Druck auf die Kirchen und der Beratungsbedarf und die Notwendigkeit von Kirchenasyl wachsen. Zum einen ist die Verzweiflung geflüchteter und sie unterstützender Menschen groß. Zum anderen geht von staatlicher Seite auch unmittelbarer Druck aus. Während führende Mitarbeitende des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit den Verantwortungsträger*innen der Kirchen verhandeln, zeigen erstere immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der wachsenden Anzahl von Kirchenasylen. Dabei erscheint die Zahl angesichts der Gesamtzahl der Geflüchteten und der vermehrten Abschiebungen nicht allzu groß. Gemeinden verhindern gegenwärtig durch bundesweit circa 340 Kirchenasyle die Ab- schiebung von über 550 geflüchteten Menschen. Das klingt in der Zahl wenig, unbeachtet bleibt hier jedoch das in den letzten Jahren stark gewachsene Engagement von Kirchengemeinden.

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Theater des Krieges

Ausschnitte aus dem Bildband Theater des Krieges mit Eindrücken aus dem Bürgerkriegsland Afghanistan. Von Roman Ehrlich und Michael Disqué.

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Abschiebungen und Soziale Arbeit

Während eine Asylrechtsverschärfung die nächste jagt und Bundesregierung und Behörden den Abschiebedruck erhöhen, wird auch in der Sozialen Arbeit vermehrt über den Umgang mit Abschiebungen diskutiert.

Im Juni 2013 kam es vor dem Abschiebegefängnis in Eisenhüttenstadt nach dem Suizid eines von Abschiebung bedrohten Geflüchteten zu Protesten. Aktivist*innen schlugen im Rahmen einer Protestaktion mit einem Fahrradständer ein Loch in den Zaun des Abschiebegefängnisses, ein Aktivist drang auf das Gelände des Abschiebeknastes vor, es wurden „kein mensch ist illegal“-Fahnen in den Stacheldraht gehängt, die Polizei drängte die Demonstrant*innen schließlich gewaltsam unter Verwendung von Pfefferspray vom Zaun ab. Am Rande des Tumultes kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen einer Sozialarbeiterin und einer antirassistischen Aktivistin. Die Aktivistin warf der Sozialarbeiterin vor, als Sozialarbeiterin „für das System” zu arbeiten und an Abschiebungen mitzuwirken. Die Sozialarbeiterin entgegnete, sie wisse doch gar nicht, was sie mache, als Sozialarbeiterin helfe sie den
Menschen, und so etwas müsse sie sich nicht anhören.

Die geschilderte Situation ist ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich Soziale Arbeit im Zusammenhang von Asyl- und Abschiebepolitik wahrgenommen wird. Für die Aktivistin aus der autonomen antirassistischen Szene ist Sozialarbeit in diesem Kontext per se ‚systemerhaltend’ (und sonst nichts), für die Sozialarbeiterin ist ihre Arbeit ‚Hilfe für die Menschen’ (und sonst nichts). Die beiden Positio- nen stehen sich unversöhnlich, ohne konsensuale Schnittmenge, gegenüber. Ambivalenzen und Widersprüche werden in diesen Perspektiven – zumindest im Rahmen dieser kurzen verbalen Auseinandersetzung – nicht sichtbar.

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