Ausgabe Nr. 41 | 100 jahre abschiebehaft


„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.“

Franz Kafka („Der Proceß“)

Liebe Abschiebungsgegner*innen,
Liebe Leser*innen innerhalb und außerhalb der Gefängnisse,

es gibt viele gute Gründe dafür, die Institution Gefängnis an sich zu hinterfragen, es gibt manchmal auch gute Gründe dafür, dass Menschen in Gefängnissen einsitzen. Wieso auch immer: Wenn Menschen in Haft sitzen, wurden sie von einem Gericht einer Straftat für schuldig befunden – so zumindest erwartet man es von einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland.

Bei Menschen, die in Abschiebehaft sitzen, trifft das nicht zu. Sie wurden keiner Straftat wegen schuldig gesprochen, sie sind noch nicht einmal verdächtigt, mutmaßlich eine begangen zu haben. Ihr einziges Vergehen besteht darin, dass sie in ein Land geflohen sind, das sie nicht haben will. Ihr einziges Fehlverhal- ten liegt darin, dass sie nicht in die Länder zurückkehren wollen, aus denen sie unter Lebensgefahr geflohen sind – geflohen, weil ihnen Hunger, Krieg, Verfolgung oder gar Tod drohen; oder geflohen, um wenigstens einmal an den Honigtöpfen des Kapitalismus schnuppern zu können.

Das einzige, das sie sich zu Schulden haben kommen lassen, besteht letztlich darin, dass sie die falsche Staatsangehörigkeit besitzen. Als ob man sich aussuchen könnte, wo man geboren wird. Und somit ist der einzige Grund, den deutsche Behörden für die Haft angeben, dass die Inhaftierten ausreisepflichtig seien und sich eventuell der Ausreise entziehen könnten. Und damit sie sich nicht ihrer Ausreise entziehen, wird ihnen die Freiheit entzogen. Der Staat geht hier mit aller Härte gegen die Schwächsten vor. Der Staat steckt die Ungewollten in Gefängnisse, damit sie unsichtbar und rechtlos bleiben, bis sie wieder gänzlich dorthin zurückverfrachtet werden, wo ihr Schicksal nicht einmal mehr eine Schlagzeile in unseren Zeitungen wert ist.

Ja, das Thema ist ein schwerer Brocken – genauso wie das aktuelle Heft in seiner physischen Form. Für diese Ausgabe hat sich Eure Lieblingsredaktion ganz schön ins Zeug gelegt und ist diesmal sogar zwei Kooperationen eingegangen:

In diesem Jahr gibt es das menschenunwürdige Konzept der Abschiebhaft in Deutschland seit genau einhundert Jahren. Zusammen mit der Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft haben wir das Thema des Heftes gewählt, um anlässlich des unrühmlichen Jubiläums auf diesen Teil der deutschen Verhältnisse aufmerksam zu machen.

Und wie bereits bei der Hinterland #37 „Stadt, Land, Flucht“ gibt es auch dieses Mal wieder eine kreative Kooperation mit der Designschule München. Über 70 Schüler*innen des aktuellen Jahrgangs haben Arbeiten zum Thema Abschiebehaft designt, in denen sie sich künstlerisch an dieses doch sehr schwere Thema herangewagt haben. Natürlich können wir nicht alle Arbeiten ins Heft nehmen, sodass es zusätzlich eine Ausstellung von 9. bis 11. April im Kulturprojekt Köşk in München geben wird, in der alle Arbeiten zu sehen sein werden. Manches wirkt im großen Format einer Ausstellung auch noch einmal ganz anders als in einem Magazin.

Wir wollen nicht weitere einhundert Jahre warten, bis das Konzept der Abschiebehaft endlich der Vergangenheit angehört und alle Menschen auf diesem Planeten sich frei bewegen können.

Eure Abschiebehaftgegner*innen und Fluchthelfer*innen
von der Hinterland-Redaktion

100 Jahre Abschiebehaft

Abschiebehaft in Deutschland hat eine lange und unmenschliche Tradition. 100 Jahre sind 100 Jahre zu viel – Zeit dieses System endlich zu beenden! Abschiebehaft abschaffen.

Zur Sicherung der Abschiebung kann ein*e Ausländer*in in Deutschland bis zu 18 Monate in Haft genommen werden. Abschiebehaft ist eine rassistische Sonderhaft für einen unmenschlichen Verwaltungsakt. Diese menschenverachtende Praxis wurde vor 100 Jahren in der Weimarer Republik zur Vertreibung insbesondere von Jüd*innen aus dem Osten eingeführt. Um auf diese grausame Tradition und das Leid, das diese hervorgebracht hat aufmerksam zu machen, hat sich die Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft gegründet mit dem Ziel, die Abschiebehaft abzuschaffen.

Die Kampagne verfolgt den Aufbau einer Plattform, auf der sich Aktive austauschen und vernetzen können. Sie vermittelt bundesweite Vorträge und Workshops und koordiniert und organisiert Aktionen, darunter ein bundesweites Aktionswochenende vom 10. bis 12. Mai 2019 und eine Großdemonstration am 31. August 2019 in Büren (Westfalen) vor der größten deutschen Abschiebehaftanstalt.

Aktuell werden bundesweit neue Abschiebehaftanstalten geplant und die Haftgründe massiv ausgeweitet. In Bayern sind mit Passau und Hof 350 Abschiebehaftplätze in der konkreten Planung. Gleichzeitig findet eine umfassende Entrechtung von Geflüchteten statt, in der die Flucht als solches zu einem Haftgrund zu werden droht.

(der ganze Artikel im PDF Format)

Muss Haft sein?

Das europäische Recht gibt vor, dass vor der Verhängung von Abschiebungshaft mildere Mittel geprüft werden müssen. Wie wird dieses Recht in Deutschland umgesetzt und welche Maßnahmen anstelle von Haft greifen in anderen Ländern – auch außerhalb Europas? Zur Diskussion über Alternativen zur Abschiebungshaft.

Abschiebungshaft ist ein massiver Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit. Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, so das Bundesverfassungsgericht, ergibt sich, dass dieser Eingriff immer verhältnismäßig sein muss. Mit anderen Worten: Abschiebungshaft muss immer Ultima Ratio sein. Die Konsequenz daraus ist, dass ein Gericht einen solchen Freiheitsentzug nur dann anordnen darf, wenn im Einzelfall die Abschiebung nicht mit milderen Mitteln sichergestellt werden kann. Um Missverständnissen vorzubeugen: In diesem Beitrag geht es um Alternativen zur Haft, nicht um Alternativen zur Abschiebung. In der Diskussion gerät das immer wieder durcheinander. Eine mehr oder weniger freiwillige Ausreise ist beispielsweise eine Alternative zur Abschiebung, die dann Haft überflüssig macht. Der damalige UN-Sonderberichterstatter für die Rechte der Migranten, François Crépeau, hat 2012 eine Idee der International Detention Coalition aufgegriffen und vorgeschlagen, demgegenüber unter Alternativen zur Abschiebungshaft „alle Vorschriften, Strategien oder Handlungsweisen [zu verstehen], die Asylsuchenden, Flüchtlingen und Migranten den Verbleib in der Gemeinschaft ermöglichen, während sie auf ihre Ab- oder Zurückschiebung warten, wobei sie gewissen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen sein können.“

(der ganze Artikel im PDF Format)

Sachsen: Wie der Traum eines Innenministers wahr wurde

Seit Ende 2018 werden in Dresden erneut Menschen allein zum Zweck der Vorbereitung beziehungsweise Durchführung ihrer Abschiebung inhaftiert. Ein Einblick in die bisherigen Versuche, Bemühungen und Schwierigkeiten, eine angemessene rechtliche Beratung im Abschiebeknast zu etablieren.

„Sachsen bleibt beim Thema Abschiebungen konse- quent“, waren die Worte des damaligen Innenministers Sachsens, Markus Ulbig (CDU). Wie konsequent, das zeigte sich bei der Umsetzung der geplanten Ab- schiebehaft in Dresden. Zynisch ließ Ulbig verlauten, dass die Abschiebehaft „selbstverständlich auch der Würde des Menschen Rechnung“ trage. Er bezog seine Aussage auf die getrennte Unterbringung von Familien und Minderjährigen zu alleinstehenden Ausreisepflichtigen. Sicher ist, dass die doppelte Fenstervergitterung der Zellen, die streng regulierten Zeiten für Internetzugang, Sportbereich und Fernsehraum und die zwei im Außengelände angebrachten Federwippen für Kinder, der Würde des Menschen nicht Rechnung tragen. Haft ohne Straftat ist ohnehin würdelos und hinterlässt tiefe Narben bei den Betroffenen.

Die Ausgestaltung der Haftbedingungen obliegt den Bundesländern. Auch in Sachsen wurde im Juni 2018 ein Vollzugsgesetz vom Landtag beschlossen. Mit ‚Ja‘ stimmten die Koalitionsfraktionen von CDU und SPD. Auch aus der Opposition gab es Zustimmung, die Abgeordneten der AfD hoben die Hand. LINKE und Grüne lehnten das Gesetz ab.

Der Bau der Haftanstalt kostete den Freistaat Sachsen 11,7 Millionen Euro. Darin befinden sich 24 Plätze für die Abschiebehaft und 34 für den Ausreisegewahrsam. Die Dauer der Unterbringung in der Haft ist auf höchstens 18 Monate begrenzt, in Gewahrsam sind es maximal zehn Tage. Die Einrichtung hat Anfang Dezember 2018 den Betrieb aufgenommen, bereits Mitte desselben Monats wurden die ersten Menschen inhaftiert.

Viele Haftanstalten in Deutschland sind dazu überge- gangen, ihre Haftbedingungen zu verschärfen, die Abschiebehaft in Dresden startete bereits mit scharfen Regelungen und strenger Überwachung. So ist den Inhaftierten beispielsweise der Besitz eines Telefons mit Kamera nicht gestattet, sie können aber für etwa 30 Euro ein Telefon ohne Kamera in der Einrichtung erwerben. Die Gesundheitsversorgung geht derweil nicht über das Level des Asylbewerberleistungsgesetzes hinaus.

(der ganze Artikel im PDF Format)
Illustration: Antonia Langen und Julia Matzen
Illustrationen von Antonia Langen und Julia Matzen