Ausgabe Nr. 54 | erinnerung

Liebe Leser*innen,

eine Frankfurter Gedächtniskünstlerin hat im März bei einem Wettbewerb 15.637 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi auswendig aufsagen können. Die meisten Redakteur*innen aus eurer Lieblingsredaktion haben hingegen schon Schwierigkeiten dabei, sich an die eigene Handynummer zu erinnern. Es ist faszinierend, wie der Speichervorgang auf der menschlichen Festplatte funktioniert. Wenn wie bei Demenz- oder Alzheimererkrankten alles langsam verschwindet und zum Teil nur die ältesten Erinnerungen bleiben – dann wird ein Gedicht aus der Kindheit erinnert, der Name der eigenen Kinder aber nicht. Wenn sich Zeug*innen vor Gericht felsenfest an Dinge erinnern, die sie niemals gesehen haben – weil sie davon in der Zeitung gelesen haben und ihr Verstand das für eine erlebte eigene Erinnerung hält. Wenn wie bei Savants, einer Gruppe auf dem autistischen Spektrum mit Inselbegabung, das Gehirn einfach alles Wahrgenommene erinnert – bis hin zum kleinsten Detail wie der Anzahl der Fenster eines einmalig gesehenen Gebäudes. Ob das ein Segen oder ein Fluch ist, sei dahingestellt.

Für ein Individuum ist das Erinnern wichtig. Die erste Liebe, der erste Kuss, die Bankkarten-PIN. Unsere Erinnerungen machen uns als Person aus, bestimmen, wer wir sind, erzählen unsere ganz eigenen Geschichten. Doch das Vergessen ist nicht minder wichtig. Will man sich das ganze Leben lang an jeden Mist erinnern, den irgendjemand mal in der Kneipe erzählt hat, oder an Tante Ernas alte Telefonnummer? Oder gar an das Leid, das man erleben musste, an den Schmerz, an die Todesangst oder an das Gesicht der Person, die einem eine Waffe vor die Stirn gehalten hat? Sollen diese Dinge unsere Geschichte erzählen? Viel zu oft vergessen wir das, an das wir uns gerne erinnern würden, und das, was wir lieber vergessen würden, brennt sich in unser Gedächtnis.

Wo es für den einzelnen Menschen gut sein kann zu vergessen, ist es für Gesellschaften umso wichtiger sich zu erinnern. Manche Gesellschaften tun sich mit dem Erinnern allerdings schwer. Die Deutschen zum Beispiel würden lieber vergessen, was ihre Vorfahren so gemacht haben. „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, schrieb Theodor W. Adorno. Doch wie kann man angemessen an diese deutsche Barbarei erinnern? Wie kann man das Andenken der Opfer ehren, die Gräuel der Täter*innen aufzeigen und an die Verantwortung der nachfolgenden Generationen appellieren? In Deutschland scheint es, als trage die Aufarbeitung der Vergangenheit immer auch den Wunsch nach einem Schlussstrich in sich.

Und wie erinnert man als Gesellschaft an all die beinahe alltäglichen Verbrechen, die von rassistischen oder antisemitischen, von homo-, trans- oder frauenfeindlichen Täter*innen begangen wurden? Auch hier scheint der Mehrheitsgesellschaft ein Schlussstrich lieber. Erinnern heißt Verantwortung übernehmen. Wer erinnert denn noch an Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen, München, Kassel, Halle oder Hanau? Wer an den NSU? Wer nennt die Täter*innen, und wer zieht sie zur Rechenschaft? Und vor allem: Wer erinnert sich an die Namen der Opfer?

Wir von der Hinterland wollen uns erinnern. Und in dieser Ausgabe wollen wir euch erinnern. An den rassistischen und antiziganistischen Anschlag am Münchner OEZ, an Migrantischen Feminismus, an die Situation von Menschenrechtler*innen in Afghanistan. An Menschen, die durch Flucht oder Krieg Traumata davontrugen. Aber auch an die queere Geschichte Münchens sowie an die Geschichten von Francisco Boix, Erna de Vries oder Georg Ott.
Sollten wir etwas Wichtiges vergessen haben, so erinnert uns doch bitte das nächste Mal daran.
Bis dahin: Vorwärts und nie vergessen,

Eure Erinnerungsweltmeister*innen von der Hinterland-Redaktion

Erinnern heißt Widerstand

Die Break Isolation Group (BIG) vom International Women* Space (IWS) dokumentiert die Stimmen von Frauen*, die in Lagern** für Geflüchtete in Brandenburg leben. Erinnern bedeutet Widerstand, wenn das System versucht, die Stimmen und Geschichten von diesen Frauen* durch Isolation, Abschiebung, Ver- weigerung des Zugangs zu den grundlegenden Menschenrechten und der Gesellschaft insgesamt auszulöschen

**Von Aktivist*innen gewählter Ausdruck, um die Orte zu beschreiben, an denen Geflüchtete untergebracht werden. Es zeigt den isolierenden Charakter dieser be- wachten Gebäude(-komplexe), die sich häufig außer- halb von Städten befinden, fern von jeder gesell- schaftlichen oder gemeinschaftlichen Anbindung, mit Ausgangssperren und Besuchsrestriktionen. Wir lehnen den offizielleren Begriff des ‚Heims‘ ab, da er den Charakter und Hintergrund dieser Unterbringungsform beschönigt.

Indem geflüchtete Frauen* gezwungen werden, in Lagern zu leben – isoliert, weit abseits der Gesellschaft, ohne Zugang zu allem, was ein Mensch braucht, um zu wachsen und bedeutungsvoll zu leben, nicht nur zu überleben, versucht der Staat uns zum Schweigen zu bringen, uns zu vergessen, uns aus der Geschichte zu streichen.

Ein Zuhause, weit weg von zu Hause, bedeutet in deiner eigenen Sprache sprechen zu können, gemeinsam Essen zu kochen mit einer Community in einem geschützten Raum, um sich gegenseitig zu empowern oder auch einfach nur etwas miteinander zu teilen. Das schafft eine Art von Schwesternschaft, die Frauen- *power und Revolutionen entfacht. Wir wollen unser ‚Ubuntu‘ (Begriff der afrikanischen Bantusprachen; steht für ein geschwisterliches Band, das alle Menschen verbindet) als Erinnerung daran verbreiten, dass ich bin, weil wir sind. Wir kommen aus Gemeinschaften und Kulturen, die das gemeinsame Essen, das Erzählen von Geschichten und das gemeinsame Kochen schätzen. Wir versuchen, dies als Teil unseres täglichen Lebens zu praktizieren, als Bewältigungs- mechanismus, aber es ist auch die Wurzel unserer Stärke. Daraus schöpfen wir unsere Kraft, um für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Raum zu kämpfen.
Warum mach

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Hinterland geht süper Doku gucken

Cem Kaya zeigt in Aşk Mark ve Ölüm das Leben türkischer ,Gastarbeiter*innen‘ in Deutschland in drei Kapiteln. Spoiler: In den Kapiteln Liebe, D-Mark und Tod. Wir begleiten Menschen auf ihrer Reise nach Deutschland, es sind abgefahrene Aufnahmen von der Abreise aus der Türkei und der Ankunft in Deutschland zu sehen.

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„Was habt ihr für Bilder im Kopf?“

Die Soziologin Encarnación Gutiérrez-Rodríguez beschäftigt sich in ihrer Forschung intensiv mit Themen wie dekoloniale feministische Gesellschaftstheorie und Kritik, affektive Arbeit und undokumentierte Migration, Trauerarbeit und Erinnerungspolitik, Menschenrechte sowie politische Selbstorganisation im Kontext von Migration und Flucht – ein Gespräch über den Kampf um das Sichtbarmachen von Frauen und ihrer Geschichte im Kontext des Migrantischen Feminismus.

Migrantischer Feminismus – was genau ist damit gemeint?

Das ist das, was Pınar Tuzcu und ich mit unseren Überlegungen in unserem Buch Migrantischer Feminismus: Frauen:bewegung in Deutschland (1985-2000) versucht haben 2021 in die Öffentlichkeit zu bringen, sodass einige das erinnern können und andere heute wissen, dass es das gab: Es geht um Personen in den 80ern und 90ern, die im Kontext von Migration stehen. In diesem Zusammenhang handelt es sich um Bewegungen, Bündnisse, eine Form von Bünd- nispolitik, mehreren Konferenzen, Formen von Austausch, die damals stattfanden, an denen auch Rom*nja, Sinti*zze Frauen beteiligt waren. Weitere Personen haben im Kontext von Exil gearbeitet, zum Beispiel die iranische Frauenbewegung im Exil. Migrantisierte Personen oder Personen, die sich auch als Migrant*innen bezeichnen, gehörten auch dazu, ebenfalls Schwarze Frauen und Jüdische Frauen. Die Zusammenarbeit darf man sich nicht so vorstellen wie heute mit E-Mails und Blogs, sondern sie lief stark darüber, dass man sich über Aktionen informierte oder Treffen organisierte. Vor allem meint Migrantischer Feminismus jedoch den Zusammenhang, den die Arbeitsmigration thematisiert hat. Jetzt im Kontext der Erinnerungspolitik, im Rahmen der sogenannten Gastarbeitermodelle.

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Erinnern heißt sich verbünden gegen rechten Terror

Die Initiative München OEZ Erinnern! zum Anschlag am 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum

34 Quadratmeter in der Innenstadt von München, ein kleiner Raum, ein Laden in den Arkaden des Münchner Rathauses. Zwei Schaufenster, ein Schaukasten und dahinter 34 Quadratmeter. Dieser Raum im Zentrum der Innenstadt ist im Moment der Ausgangspunkt unserer Arbeit. Am 22. Januar 2023 eröffnet unsere Initiative, bestehend aus Angehörigen und Freund*innen der Opfer, Überlebenden und einigen Unterstützenden, den Laden. Genau ein halbes Jahr vor dem siebten Jahrestag des Anschlags am und um das Olympia-Einkaufszentrum, bei dem Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ von einem rechtsterroristischen Attentäter ermordet wurden.

Über hundert Menschen sind an diesem Sonntag gekommen, nicht alle passen in den Raum. Sie haben sich vor dem Eingang des Ladens versammelt und hören den Worten der Familie Dayıcık, von Sibel Leyla und Gisela Kollmann zu, die umgeben von vielen anderen Angehörigen und Überlebenden vor der schmalen Schaufensterfront des Ladens stehen. „Es bedeutet uns viel, so eine Möglichkeit zu haben, um zusammenzukommen. Es fällt schwer, das in Worte zu fassen.“ Den Eltern und Geschwistern des ermordeten Hüseyin Dayıcık ist es wichtig, den Anwesenden ihren Dank für Unterstützung und Mitgefühl auszudrücken.

Zuhören und Solidarität: Dafür mussten die Angehörigen und Überlebenden in der Münchner Öffentlichkeit lange kämpfen, sie müssen es noch immer.

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Leidens- und Lernort Buchenwald

Über Spannungen und geschichtspolitische Herausforderungen der Gedenkstättenarbeit anhand des Projekts Gedenken ohne Wissen? an der Gedenkstätte Buchenwald und der Geschichte der sowjetischen Speziallager in der DDR der Jahre 1945 bis 1950.

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit waren die frühen KZ-Gedenkstätten weitgehend Orte einer kulturellen Musealisierung, ohne Personal und pädagogisches Programm. Erst seit den 1980er Jahren wurden sie zu einem zivilgesellschaftlichen Projekt. In der DDR waren die Gedenkstätten, die zwischen 1958 und 1961 gegründeten „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR“, noch eher mit einer heroisierenden Tradition verbunden. In Buchenwald etwa spielte die Erinnerung an die Ermordung Ernst Thälmanns im August 1944 eine wichtige Rolle, aber auch der Widerstand der kommu- nistischen Häftlinge, der im Narrativ der Selbstbefreiung beschrieben wurde.

Die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald begann im Sommer 1937, als die ersten Gefangenen auf den Ettersberg gebracht wurden, einer bewaldeten Anhöhe nördlich von Weimar, wo sie Holzbaracken für das Lager, Einrichtungen für die SS und große Rüstungsfabriken errichten mussten. Dieser neue Stadtteil von Weimar wurde später Buchenwald genannt. Das Lager war Teil des nationalsozialistischen industriellen Massenmords, insgesamt waren eine Viertelmillion Menschen in Buchenwald und seinen Außenlagern eingesperrt; mindestens 56.000 Menschen wurden dort ermordet oder starben an Hunger und Krankheiten. Ihre Leichen wurden verbrannt, die Asche verstreut oder anonym verscharrt.

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