Ausgabe Nr. 45 | zuhause


„Wir hamma heuer mal so eine Weltreise g’macht.
Aber ich sag’s Ihnen gleich wia’s is: da fahrma nimmer hin.“
Gerhard Polt

Liebe Zuhausegebliebenen, liebe Leser*innen,

als wir vor ein paar Monaten das Thema für diese Ausgabe festgelegt haben, dachten wir nicht, dass wir auf einmal so aktuell sein würden. Wir hätten uns auch eher gewünscht, es nicht zu sein. In der letzten Phase ist das Heft „zuhause“ nun also zuhause entstanden. Wir haben im Homeoffice gearbeitet und die Redaktionssitzungen per Videokonferenz abgehalten. So wie viele andere gerade auch. Doch trotz all der Umstände und Schwierigkeiten sind wir dennoch privilegiert: Wir können von zuhause aus arbeiten, weil wir ein Zuhause haben, wir können Social Distancing betreiben, also physische soziale Kontakte herunterfahren, weil wir einen Rückzugsort haben. Doch was ist mit all denen, die kein Zuhause haben? Oder mit denen, für die das Zuhause die eigentliche Gefahr darstellt?

So haben Obdachlose eben kein Zuhause, in dem sie bleiben könnten, sie haben oft nicht einmal die Möglichkeit, sich die Hände zu waschen. Opfer häuslicher Gewalt haben zwar ein Zuhause, würden aber lieber von dort fliehen – können dies aber im Moment nicht. Geflüchtete in „AnkER”-Zentren und Sammelunterkünften haben zwar so etwas Ähnliches wie ein Zuhause – zumindest ein Dach über dem Kopf –, doch sind sie dort auf engstem Raum mit wenig Abstand untergebracht, haben mit schlechten hygienischen Verhältnissen und mangelhafter medizinischer Versorgung zu kämpfen. Social Distancing ist da unmöglich. Wie soll man Erkrankte in einer überfüllten Geflüchtetenunterkunft isolieren, damit niemand anderes angesteckt wird?

Doch schlimmer geht es immer. So für die Menschen im Camp Moria auf Lesbos, wo mehr als 20.000 Personen zusammengepfercht werden in einem Lager für 2.000. Ohne adäquate sanitäre Einrichtungen, ohne medizinische Versorgung. Eng auf eng. Menschen, die ohnehin schon krank und geschwächt sind. Menschen, die traumatisiert sind. Doch die Europäische Union schaut wieder einmal weg, diesmal egoistisch erstarrt in der Angst vor dem Virus. Doch es muss endlich geholfen werden. Moria – so wie all die anderen Lager zwischen Lesbos und Idlib auch – muss evakuiert werden und die Menschen müssen in europäischen Ländern untergebracht werden, ihnen muss ein sicheres Zuhause gegeben werden. Alles andere ist unmenschlich. In Deutschland stehen übrigens gerade einige Hotels leer.

Überhaupt offenbart die EU in der Krise, dass sie eben keine Gemeinschaft ist. Grenzen werden wieder hochgezogen, nationale Alleingänge bestimmen das Bild, eine innereuropäische Solidarität gibt es nicht. Der schlimme Verlauf der Corona-Pandemie in Italien liegt auch am langjährigen deutschen Festhalten an der europäischen Austeritätspolitik, die die Länder Südeuropas kaputtgespart hat. Kann dieses Europa noch ein gemeinschaftliches Zuhause für alle Europäer*innen sein?

Zudem besteht die konkrete Gefahr, dass die jetzt epidemiologischen und medizinisch notwendigen Maßnahmen und Einschränkungen der Freiheit beibehalten werden und autoritäre Staaten entstehen. Neben Menschenleben müssen aber auch Demokratie und Grundrechte geschützt werden. Doch in der Krise ist sich jede*r am nächsten, der Nationalismus lebt wieder auf. Populist*innen – wie in Polen und Ungarn – nutzen die Pandemie geschickt, um ihre Macht zu erweitern und die Demokratie weiter zu zerstören.

Vielleicht bietet die Krise aber auch eine Chance. Es ist die Frage, wie wir sie nutzen. Natürlich wird nach der Krise nicht die utopische Gesellschaft der freien Assoziation freier Menschen entstehen, in der jede*r nach den eigenen Fähigkeiten arbeitet und nach den eigenen Bedürfnissen konsumiert – aber vielleicht lässt sich die Systemfrage zumindest stellen. Vielleicht gewinnt die Erkenntnis, dass elementare Wirtschaftszweige wie die Gesundheitsversorgung nicht kapitalistischen Prinzipien unterworfen sein dürfen.

Vielleicht gewinnt die Erkenntnis, dass nur intensivere internationale Zusammenarbeit und größere globale Solidarität die Probleme lösen kann. Es ist die Frage, ob wir die Welt zu einem lebenswerten Zuhause machen oder ob die Populist*innen und Nationalist*innen sie in die Barbarei treiben.

Wir werden es sehen.

Bis dahin könnt ihr ja die Hinterland lesen. Das aktuelle Heft ist übrigens wieder eine Zusammenarbeit mit der Designschule München. Die dritte inzwischen. Über 70 Schüler*innen des aktuellen Jahrgangs haben ihre Vorstellungen von Zuhause grafisch illustriert – und wie bei den letzten beiden Kooperationen auch, können auch dieses Mal leider nicht alle Arbeiten ins Heft genommen werden. Es wird aber auch dieses Mal wieder eine Ausstellung geben, in welscher alle Werke zu sehen sein werden – allerdings ist das mit der Planung momentan etwas schwierig.

Die Ideen zu den Illustrationen wurden noch vor der Corona-Krise entwickelt. Waren wir als Redaktion bei der Präsentation der Arbeiten zuerst noch erstaunt über die Häufigkeit, in der dort die Thematik der Toilette als ein Fixpunkt des Zuhauses auftritt, so haben sich darin schon nahezu prophetisch die Klopapier-Hamsterkäufe der letzten Wochen angedeutet. Die Toilette scheint bedeutender zu sein als wir es je gedacht hatten. Eine psychoanalytische Untersuchung, wie dies mit dem Freud’schen Konzept des Analen Charakters verbunden ist, könnte interessant sein. Vielleicht in einer der nächsten Ausgaben.
Wir hoffen, dass wir euch mit diesem Heft eine spannende Lektüre und interessante Illustrationen für die Zeit zuhause liefern können. Oder zumindest einen Klopapierersatz.

Bleibt gesund!
Euer Homeoffice von der Hinterland-Redaktion

Ausgabe Nr. 44 | behinderung

 

Liebe Leser*innen,

bei der Para-Leichtathletikweltmeisterschaft Anfang November ist der an beiden Unterschenkeln amputierte Sprinter Johannes Floors 100 Meter in 10,60 Sekunden gelaufen. Das durchschnittliche Hinterland-Redaktionsmitglied benötigt für dieselbe Distanz ungefähr zwischen zwei Minuten und einem Taxi. Ludwig van Beethoven hat, als er bereits taub war, die besten Musikstücke der Geschichte komponiert; Stephen Hawking mag zwar im Rollstuhl gesessen und nur mittels eines Computers kommuniziert haben können, überflügelte als Physiker aber den Rest der gesamten Menschheit. Wenn hier jemand eine Behinderung hat, dann wir angeblich Normalen.

Doch das waren nur die herausragendsten Beispiele. Auch abseits von Genie und großem Talent kann jeder Mensch etwas, was sonst niemand kann. Auch abseits von Genie und Talent ist jeder Mensch einfach etwas Wertvolles und Besonderes. Ob mit Behinderung oder ohne. Und dann bleibt die Frage: Was ist überhaupt eine Behinderung? Wo beginnt sie? Was bestimmt sie? Sind es physische, psychische oder kognitive Einschränkungen, die eine Behinderung ausmachen? Oder sind es nicht vielmehr die äußeren Verhältnisse, die Menschen darin behindern, vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können? Das Problem ist doch zum Beispiel nicht der Rollstuhl, sondern der U-Bahnhof ohne Aufzug. Das Problem ist doch eine Gesellschaft, in der Menschen mit Trisomie 21 nicht zugetraut wird, mehr zu können als nur Schrauben zu sortieren.

Wer bestimmt, was behindert ist und was normal? Die Medizin, die Gesellschaft oder die Betroffenen? Oder bestimmt es erst der Behindertenausweis? Ist überhaupt irgendjemand normal? Und will überhaupt jemand normal sein?

Das Thema Behinderung verunsichert viele Menschen. Also eben diejenigen, die nicht betroffen sind. Sie wissen nicht, wie sie mit Behinderung umgehen sollen. Und sie verharren bestenfalls irgendwo zwischen unnötigem Mitleid und kompletter Unwissenheit – wenn sie nicht sogar abfällige Gedanken hegen. Oder diese Gedanken gar nach außen hin artikulieren: wenn sie Menschen mit Behinderung beleidigen, diskriminieren oder sogar wegsperren wollen. Manchmal reagieren sie auch mit falscher Hilfsbereitschaft. Die einen tragen dann einen Rollstuhlfahrer scheinbar selbstlos die Treppen hoch, obwohl er gar nicht nach oben wollte. Die nächsten reden extra laut mit einer Blinden.

Die ungefragt gegebene Hilfe kann manchmal diskriminierender sein als eine offene Beleidigung, denn sie nimmt den Menschen den letzten Rest Selbstständigkeit. Kaum jemand fragt die behinderten Menschen selber, wie sie behandelt werden wollen, was sie wollen, wann sie Hilfe wünschen und wie diese Hilfe aussehen könnte. Und wie Menschen mit Behinderung die Welt wahrneh- men und was die angeblich Normalen von ihnen lernen könnten, fragt sowieso niemand. Dabei könnten wir gegenseitig so viel voneinander lernen.

Und wieso denken beim Thema Behinderung erstmal alle nur an Blinde, an das Down-Syndrom oder an Rollstuhlfahrer*innen? Oder an Behindertenparkplätze?

Und für geflüchtete Menschen mit Behinderung multipli- zieren sich all die Probleme nochmal um ein Vielfaches. Seit August 2018 werden alle in Bayern neu ankommenden Geflüchteten in den sogenannten ANKER-Zentren untergebracht – diese sind weder menschenwürdig, noch barrierefrei. Weder für Menschen im Rollstuhl, noch für Seh- oder Hörbehinderte. Es gibt keine Betreuung für Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Traumata. Es gibt keine Rückzugsräume und keinen Schutz vor Übergriffen. Und selbst schwerste Behinderungen schützen nicht vor Abschiebung – vor Abschiebung in Länder in denen Krieg herrscht, in denen die Angehörigen verstorben oder geflohen sind und in denen den Abgeschobenen der sichere Tod droht.

Menschen mit Behinderung werden oftmals nicht als gleichberechtigt angesehen, sie werden als Bittsteller betrachtet, werden nur als Kostenfaktor oder Last für die Allgemeinheit angesehen. Egal, ob geflüchtet oder nicht. Da unterscheidet sich das kapitalistische Ideal kaum vom faschistischen – nur, was einen scheinbaren Nutzen für den Volkskörper oder, wie heute, für die Volkswirtschaft bringt, wird akzeptiert. Doch jeder Mensch hat das Recht auf ein würdevolles und gleichberechtigtes Leben. Das ist so trivial und muss doch immer wieder aufs Neue erwähnt werden.

Behinderung ist normal, Behinderung ist alltäglich, Behinderung ist menschlich. Für geflüchtete wie für nicht-geflüchtete Menschen. Die Verhältnisse sind es, die behindern. Lasst uns also die Verhältnisse ändern, nicht die Menschen.

Eure nicht normalen Freund*innen von der Be-Hinderland Redaktion

Ausgabe Nr. 43 | kriminalisierung

 

„Und was werdet ihr tun, wenn sie Mauern aufbauen?
Zusehen – betroffen sein – und wegschauen? […]
Ob sie das Grundgesetz ändern, ist euch völlig egal,
diese Feigheit hat ‘nen Namen: ‚linksliberal‘“
But Alive (die Punkband von dem Typen von Kettcar)

Liebe Kriminalisierte, liebe Leser*innen,

passt bloß auf, sonst seid ihr ganz schnell kriminell. Zumindest in den Augen von Polizei, Behörden und Ämtern. Natürlich leben wir in Europa noch lange nicht in einer totalitären Diktatur, wie es manche Fans von Verschwörungstheorien und Anhänger*in- nen der AfD phantasieren und dabei immer wieder Vergleiche zu George Orwells Klassiker „1984“ ziehen. Diese Leute kriminalisieren die Demokratie zu Unrecht, um ihre eigene wirre und menschenfeindliche Ideologie zu verharmlosen. Doch leider hat aber auch eben die bürgerliche Demokratie schon immer bestimmte Gruppen ausgeschlossen, hat bestimmtes Verhalten kriminalisiert, um die Bevölkerung einzuschüchtern.

Und mit Erstarken rechtspopulistischer, ja rechtsradikaler Kräfte in ganz Europa – und nicht nur dort – werden immer mehr Gruppen von Menschen kriminalisiert. Sei es aus der Naivität heraus, mit der Übernahme der rechtsradikalen Agenda die Rechtsradikalen eindämmen zu können, sei es aus national-kapitalistischen Zwängen, um den Wirtschaftsstandort zu optimieren, sei es aus einem allgemeinen kulturellen Backlash heraus, weil die moderne Zeit so kompliziert ist und die alte scheinbare Sicherheit verspricht. Manchmal aber einfach auch nur aus Sexismus, Rassismus oder Homophobie heraus.

Frauen werden kriminalisiert, Homosexuelle, Transsexuelle, Menschen ohne Arbeit, Menschen, die die falsche Hautfarbe, die falsche Herkunft oder die falschen Papiere haben – nicht für etwas, das sie getan haben, sondern für das, was sie sind.

Menschen, die Hartz IV erhalten, aber nicht jeden ausbeuterischen Scheißjob annehmen wollen, werden sanktioniert. EU-Bürger*innen, die nach Deutschland kommen, um einen dieser prekären Scheißjobs zu machen, werden diskriminiert, werden von Sozialleistungen ausgeschlossen. Ihnen wird die in der EU übliche Freizügigkeit nicht gewährt. Und wenn sie durchs soziale Raster fallen und auf der Straße landen, werden sie als „Bettelmafia“ diffamiert. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.

Frauen, die selbstbestimmt entscheiden wollen, was mit ihrem Körper passieren soll, werden als Mörderinnen beschimpft. In manchen islamischen Ländern werden Frauen eingesperrt oder Schlimmeres, wenn sie kein Kopftuch tragen, in manchen westlichen Ländern werden sie angegriffen, wenn sie eines tragen. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.

Menschen, die keine weiße Haut haben, werden regelmäßig von der Polizei aufgehalten, kontrolliert und schikaniert – denn People of Colour dealen ja mindestens mit Drogen, wenn sie nicht gar Terrorist*innen sind. Alle. Immer. Weil das ja so ist. Obwohl dieses sogenannte racial profiling inzwischen als gesetzeswidrig eingestuft wurde, ist es immer noch gang und gäbe in der polizeilichen Praxis. Das neue „Hau-ab-Gesetz“ kriminalisiert nicht nur Geflüchtete wegen Kleinigkeiten, sondern auch deren Unterstützer*innen. Während der Staat Geflüchtete in Länder wie Afghanistan und damit oftmals in den sicheren Tod abschiebt, müssen diejenigen, die sich dagegen wehren oder die dies zu verhindern suchen, mit Strafen rechnen. Wer Menschen vor dem Ertrinken rettet, muss das Gefängnis fürchten. Was nicht ins Bild passt, wird kriminalisiert.

Es scheint fast so, als sei alles kriminell, was den Versuch unternimmt, ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen oder die falschen Verhältnisse und die Barbarei über den Haufen werfen zu wollen. Kommt, lasst uns alle kriminell sein!

Eure (Klein-)Kriminellen von der Hinterland-Redaktion

Ausgabe Nr. 42 | zweiundvierzig

 

„How much is the fish?”
Scooter

Liebe Fragenden und Suchenden, liebe Leser*innen,

die Antwort auf alle Fragen ist da! Ihr haltet sie in Händen. Das Suchen hat ein Ende und alles bekommt endlich einen Sinn. Vielleicht …

In seinem Erfolgsroman The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy schreibt Douglas Adams, dass „42“ die
Antwort auf alle Fragen, auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ sei. Und so kann die Hinterland #42 natürlich auch nicht weniger sein als eben jene Antwort auf alle Fragen. Ja, das ist ein großes Ziel – und ja, das ist verdammt nerdy.

Doch was sind überhaupt die Fragen, die uns alle umtreiben? Welche Fragen stellen sich in Damaskus oder in Tripolis, welche auf Lesbos, welche in München, Kassel oder in Görlitz? Welche Fragen stellen sich für queere Geflüchtete? Welche Fragen stellen sich auf dem wochenlangen Weg durch die Sahara? Welche Fragen stellen sich beim Anblick des rostigen, seeuntauglichen Seelenverkäufers, der die Strecke über das Mittelmeer niemals überstehen wird? Welche Fragen stellen sich, wenn die gewalttätigen Erfüllungsgehilf*innen von BIA, Pegida und AfD sich mit Pistolen bewaffnen und an deiner Tür klingeln?

Wie stoppen wir den Klimawandel und wie stoppen wir die Rechten? Wie überwinden wir Armut, Ungerechtigkeit und Kapitalismus?

Und dann ist da noch die Frage aller Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? … Liebe? Kinder? Reichtum? Anderen Menschen helfen? Oder doch einfach nur so viel Spaß haben wie möglich? Die Antworten sind so vielfältig und bunt wie die Menschen es selber sind. Und manchmal rennen wir ein Leben lang einem Ziel hinterher, um am Ende zu erkennen, dass alles bloß ein Irrtum war. Manchmal verkehrt sich Sinn in Unsinn. Und manchmal wird einfach alles bedeu- tungslos, wird die große Frage auf eine sehr kleine, aber bedeutende Antwort heruntergebrochen – und die Frage nach dem Leben ist die Frage nach dem reinen Überleben.

Doch es müssen auch gar nicht die großen Fragen über Leben und Tod und das Universum sein – manchmal sind auch die kleinen Fragen existenziell. Wo kannst du mit deinem prekären Einkommen noch Tomaten einkaufen, wenn der Aldi um die Ecke zumacht? Wieso räumt niemand die Küche nach Benutzung wieder auf? Was haben der völkische Trachten-Pseudorocker Andreas Gabalier und die Münchner Komikerlegende Karl Valentin gemein? Ist ein Hotdog ein Sandwich? Fragen über Fragen.

Eines hatten wir bei all den Fragen allerdings nicht bedacht: Der im Buch mit der Findung der Antwort beauftragte Supercomputer Deep Thought benötigte insgesamt 7,5 Millionen Jahre, um zu einem Ergebnis zu kommen – vielleicht waren die drei Monate, die uns für die Erstellung dieses Heftes zur Verfügung standen, dann doch etwas sportlich gedacht.

Und so konnten wir nicht auf alle Fragen eingehen, die uns so umtreiben. Einige der obigen haben wir beantworten können. Einige wirklich wichtige blieben unbeantwortet. Da ist die große Frage des Transzendentalen, nach Gott und der Religion zum Beispiel. Warum suchen die einen Halt im Glauben, während andere dem engen Korsett der religiösen Unterdrückung entfliehen wollen? Oder auch die uns alle immer bewegende Frage nach der Liebe. Was ist die Liebe? Wo finden wir sie? Und wie verlieren wir sie nicht wieder?

Ja, das alles hätten wir euch noch gerne beantwortet. Doch liegt nicht gerade auch in der Suche nach dem Sinn ein Sinn? „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schreibt Camus. Und so rollen wir wieder den Stein auf den Berg und stellen uns weiter die großen Fragen. Wenn wir eine Antwort finden, teilen wir sie euch natürlich mit.

Eure Fragensteller*innen von der Hinterland-Redaktion

Ausgabe Nr. 41 | 100 jahre abschiebehaft


„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben,
denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet.“

Franz Kafka („Der Proceß“)

Liebe Abschiebungsgegner*innen,
Liebe Leser*innen innerhalb und außerhalb der Gefängnisse,

es gibt viele gute Gründe dafür, die Institution Gefängnis an sich zu hinterfragen, es gibt manchmal auch gute Gründe dafür, dass Menschen in Gefängnissen einsitzen. Wieso auch immer: Wenn Menschen in Haft sitzen, wurden sie von einem Gericht einer Straftat für schuldig befunden – so zumindest erwartet man es von einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland.

Bei Menschen, die in Abschiebehaft sitzen, trifft das nicht zu. Sie wurden keiner Straftat wegen schuldig gesprochen, sie sind noch nicht einmal verdächtigt, mutmaßlich eine begangen zu haben. Ihr einziges Vergehen besteht darin, dass sie in ein Land geflohen sind, das sie nicht haben will. Ihr einziges Fehlverhal- ten liegt darin, dass sie nicht in die Länder zurückkehren wollen, aus denen sie unter Lebensgefahr geflohen sind – geflohen, weil ihnen Hunger, Krieg, Verfolgung oder gar Tod drohen; oder geflohen, um wenigstens einmal an den Honigtöpfen des Kapitalismus schnuppern zu können.

Das einzige, das sie sich zu Schulden haben kommen lassen, besteht letztlich darin, dass sie die falsche Staatsangehörigkeit besitzen. Als ob man sich aussuchen könnte, wo man geboren wird. Und somit ist der einzige Grund, den deutsche Behörden für die Haft angeben, dass die Inhaftierten ausreisepflichtig seien und sich eventuell der Ausreise entziehen könnten. Und damit sie sich nicht ihrer Ausreise entziehen, wird ihnen die Freiheit entzogen. Der Staat geht hier mit aller Härte gegen die Schwächsten vor. Der Staat steckt die Ungewollten in Gefängnisse, damit sie unsichtbar und rechtlos bleiben, bis sie wieder gänzlich dorthin zurückverfrachtet werden, wo ihr Schicksal nicht einmal mehr eine Schlagzeile in unseren Zeitungen wert ist.

Ja, das Thema ist ein schwerer Brocken – genauso wie das aktuelle Heft in seiner physischen Form. Für diese Ausgabe hat sich Eure Lieblingsredaktion ganz schön ins Zeug gelegt und ist diesmal sogar zwei Kooperationen eingegangen:

In diesem Jahr gibt es das menschenunwürdige Konzept der Abschiebhaft in Deutschland seit genau einhundert Jahren. Zusammen mit der Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft haben wir das Thema des Heftes gewählt, um anlässlich des unrühmlichen Jubiläums auf diesen Teil der deutschen Verhältnisse aufmerksam zu machen.

Und wie bereits bei der Hinterland #37 „Stadt, Land, Flucht“ gibt es auch dieses Mal wieder eine kreative Kooperation mit der Designschule München. Über 70 Schüler*innen des aktuellen Jahrgangs haben Arbeiten zum Thema Abschiebehaft designt, in denen sie sich künstlerisch an dieses doch sehr schwere Thema herangewagt haben. Natürlich können wir nicht alle Arbeiten ins Heft nehmen, sodass es zusätzlich eine Ausstellung von 9. bis 11. April im Kulturprojekt Köşk in München geben wird, in der alle Arbeiten zu sehen sein werden. Manches wirkt im großen Format einer Ausstellung auch noch einmal ganz anders als in einem Magazin.

Wir wollen nicht weitere einhundert Jahre warten, bis das Konzept der Abschiebehaft endlich der Vergangenheit angehört und alle Menschen auf diesem Planeten sich frei bewegen können.

Eure Abschiebehaftgegner*innen und Fluchthelfer*innen
von der Hinterland-Redaktion