Ausgabe Nr. 29 | dublin III

 

Liebe Leute,

EU Gipfel am 26. Juni 2015: Nach einer langen uneinigen Debatte beschließt die EU eine Umverteilung von 60 000 Geflüchteten. Auf freiwilliger Basis, denn verbindliche Regelungen ließen sich nicht durchsetzen. Nun wird weiterverhandelt, welches Land denn nun wie viele Flüchtlinge aufnehmen kann und soll. Und es zeigt sich ein ums andere Mal: die europäische Hilfsbereitschaft hält sich in Grenzen. Da wird schon ausgiebig argumentiert, um ja nicht zu viele Geflüchtete aufzunehmen. Neu ist dieses Phänomen freilich nicht: Schon seit längerem kennt die EU ausgefeilte bürokratische Regelungen, anhand derer sich hilfesuchende Geflüchtete nach dem Gutdünken einiger Mitgliedstaaten – mit dem Ziel: „Alle anderen zuerst“ – verteilen lassen müssen.
Grund genug für das Hinterland Magazin, sich aus aktuellem Anlass nochmal den Klassiker unter den EU Verordnungen im Bereich Verteilung vertiefend zu widmen: der Dublin Verordnung, auch in der 29-seitigen Neufassung mit dem glanzvollen Untertitel: „Zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung)“.

Mittlerweile sind wir also schon bei Dublin III angekommen. Doch kann das für anhaltenden Verteilungserfolg sprechen? Wohl kaum. Die Autoren und Autorinnen dieser Ausgabe haben die „Herumschiebeverordnung“ deshalb nochmal genau unter die Lupe genommen: Von der geschichtlichen Entwicklung bis zur Unmöglichkeit ihrer Durchführung. Von Bulgarien bis Schweden. Von Kirchenasyl bis zum Lager Friedland.

Und herausgekommen ist vor allem eines: Das bürokratische Herumgeschiebe von Geflüchteten macht weder menschlich noch politisch einen Sinn. Sollte man sich da nicht mal was Neues ausdenken? Mut hingegen machen die vielfältigen “oft erfolgreichen“ Aktivitäten gegen Dublin-Abschiebungen. Viele sind auf der Kampagnenseite „Wir treten-ein.de von Pro Asyl dokumentiert und jetzt auch in den Seitenspalten dieses Heftes.

Und – tatarataa: Wir haben den alternativen Medienpreis bekommen. Vielen Dank. Er wurde bereits ausgiebig gefeiert und wir sind hochmotiviert für die nächsten 29 Ausgaben. Und Dank auch an alle, die das Hinterland-Magazin so regelmäßig lesen.

Eure Preisträger und Preisträgerinnen von der Hinterland

Fakten, Dublin, Fakten

Die Menschenrechtswidrigkeit des Dublin-Systems erklärt sich anhand konkreter Schicksale, also daran, wie mit Schutzsuchenden in Europa umgegangen wird. Im Folgenden geht es vor allem um eine quantitative Beschreibung der Auswirkungen und Mechanismen des Dublin-Systems.

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, forderte Anfang Mai Deutschland auf, eine Vorreiterrolle bei der Abschaffung des Dublin-Systems einzunehmen. Dublin sei ein „kaputtes System, das künstlich am Leben gehalten wird“. Erforderlich sei ein Mechanismus, der auf dem Prinzip der Menschenrechte und echter Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten basiere.
Nahe zu zeitgleich begrüßte Bundesinnenminister Thomas De Maizière die Vorschläge der EU-Kommission zur Verteilung bestimmter Asylsuchender innerhalb der EU. Es sei erfreulich, so De Maiziére, dass die Kommission nun aufgegriffen habe, wofür er sich gemeinsam mit einigen Amtskollegen aus anderen EU-Staaten schon länger eingesetzt habe, hieß es in einer Meldung. Zuvor schon hatte Bundeskanzlerin Merkel erklärt, das Dublin-System funktioniere nicht mehr und es müsse daran gearbeitet werden, „Dublin zu verändern“.

Deutschland als großer Reformator des gescheiterten Dublin-Systems? Das ist eine kühne Nachricht, die vor nicht einmal einem Jahr ins Reich der Fantasie hätte verwiesen werden müssen. Schließlich ist Deutschland ein maßgeblicher Initiator und langjähriger Verfechter der Dublin-Regelungen. Noch im Mai 2014 antwortete die Bundesregierung auf die Frage, wie sie die Effizienz bzw. Änderungsbedürftigkeit des Dublin-Systems beurteile, angesichts niedriger Überstellungsquoten und einer im Ergebnis geringen Verteilungswirkung: „Diese Gründe geben keinen Anlass zur Änderung des bestehenden Systems. Sie würden auch bei anderen Verfahren, wie z. B. der oft geforderten Verteilung anhand von Quoten, bestehen bleiben. Auch bei einer Verteilung nach Quoten würden die Betroffenen dieselben Anstrengungen unternehmen, um in den von ihnen bevorzugten Staat zu gelangen und in ihm bleiben zu können. Bei Erreichen der Quote würden erforderliche Überstellungen in andere Mitgliedstaaten vergleichbaren Schwierigkeiten begegnen.… Ziel des Dublin-Verfahrens ist nicht, eine reale Verteilungswirkung zu erreichen. Ziel des Dublin-Verfahrens ist vielmehr, den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat zu bestimmen“ (BT-Drs. 18/1394).

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Notfallquote kratzt an Dublin

Das Dublin-System hat vor allem Nachteile. Dies erkennen mittlerweile auch viele Mitgliedstaaten der EU und plädieren für einen Verteilungsschlüssel. Doch auch dieses Konzept birgt bislang kaum eine Verbesserung für Geflüchtete.

Menschen, die von Krieg, Verfolgung, Klimawandel oder welchen Gründen auch immer nach Europa fliehen, lernen, einmal angekommen, schnell eine neue Vokabel: „Dublin“. Dublin ist zum Synonym geworden für Abschiebehaft, monatelange Unsicherheit, Trennung von Familien, Verschleppung von Asylanträgen: Das Spiel mit Menschen im Namen eines politischen Theaters. Geflüchtete und ihre Unterstützerinnen und Unter- stützer wissen schon lange um das Leid, das Dublin verursacht. Doch neuerdings überlegen auch einige Regierungen, ob sie die Dublin-Verordnung eventuell ändern wollen. Denn auch aus einer Logik der Abschiebung heraus bringt Dublin wenig: Dänemark verschickt Flüchtlinge an Schweden, Schweden an Deutschland, Deutschland an Österreich, Österreich an Schweden. Da alle Sender und Empfänger gleichzeitig sind, ändert sich für viele Mitgliedstaaten die Zahl der Flüchtlinge, um die sie sich kümmern müssen, nur unerheblich.

Das Dublin-System, das die Zuständigkeit für Asylsuchende in der EU regelt, hat nur Nachteile. Trotzdem halten nach wie vor viele Mitgliedsstaaten daran fest. Denn Dublin ist auch ein politisches Versprechen, die Staaten zu bestrafen, die nicht genug gegen Migration tun. Zuständig für Schutz- suchende ist nämlich immer der Mitgliedstaat, in dem Asylsuchende zuerst ihren Fuß auf europäischen Boden gesetzt haben. Damit ist der Anreiz klar: Die Staaten sollen nichts unversucht lassen, Menschen draußen zu halten, damit sie ihr Recht auf internationalen Schutz nicht wahrnehmen können. Die Toten im Mittelmeer und die Zäune an den Außen- grenzen sind Zeugnis davon.

An Dublin schrauben: der Verteilungsschlüssel

Der Druck auf Dublin hat jedoch zugenommen: Die südlichen Grenzstaaten beschweren sich lautstark. Sogar die deutsche Bundesregierung ist mit Dublin nicht mehr zufrieden, seitdem Deutschland besonders viele Flüchtlinge zu versorgen hat. Andere Staaten mit niedrigen Flüchtlingszahlen sperren sich aber nach wie vor gegen eine Reform, sogar wenn sie nur vorübergehend greifen soll. Gerade hat die EU-Kommission vorgeschlagen, für den aktuellen Notfall der Überforderung Italiens und Griechenlands, einen Verteilungsschlüssel greifen zu lassen. Damit würden über die nächsten zwei Jahre 40.000 syrische und eritreische Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf andere EU-Länder umverteilt. Selbst gegen diese minimale Zahl gibt es Widerstand.
Der Verteilungsschlüssel für den Notfall ist ein Trippelschritt in die richtige Richtung. Die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten wird durch 40.000 Plätze zwar eher symbolisch angegangen, aber immerhin. Flüchtlinge, die jetzt tage- und wochenlang auf griechischen Inseln oder Sizilien festhängen, können zumindest darauf hoffen, dass ihr Asylantrag im neuen Aufnahmeland schneller entschieden wird, als in den überforderten örtlichen Behörden.

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Samuels Reise

Die Flucht des Kindersoldaten aus Eritrea führte über viele Länder in eine Grauzone – das Kirchenasyl. Und das ist nun seine letzte Hoffnung.

Es ist Mai. Seit einem Jahr lebt Samuel in Lübeck im Kirchenasyl. Was heute wie Alltag anmutet, hat nur wenig Alltägliches an sich. Bis hierher waren es lange Wege für Samuel und die Kirchengemeinde. Von der Flucht aus Eritrea, durch den Sudan, durch die Sahara, nach Libyen, über das Mittelmeer, wieder Libyen, wieder Mittelmeer, bis Europa. Italien.

„Man brachte uns in das Aufnahmelager bei Catania auf Sizilien. Es war völlig überfüllt. Von mindestens drei oder vier Schiffen wurden alle Menschen dort hineingestopft – vielleicht 1000 insgesamt. Man vergab keine neuen Ausweise, die Zugang zu Essen, Getränken oder Schlafplätzen gewährleisteten. Man konnte sich nachts nur in der Cafeteria oder im Freien aufhalten“, sagt Samuel. Er lebte auf der Straße in Catania, ernährte sich von etwas Wasser und wildwachsenden Kaktusfeigen, die ihm Bauch- schmerzen und Hautausschlag am ganzen Körper bescherten. Medizinische Behandlung für diese Beschwerden gibt es nicht. Auch nicht für die Kriegsverletzungen aus Eritrea.

Das ist Europa. Während Menschen wie Samuel ihr Leben riskieren, um es bis hierher zu schaffen, beschäftigt die europäischen Staaten vor allem eine Frage: Wer ist zuständig? Während Geflüchtete in Italien, Spanien, Griechenland, Malta, Ungarn, Bulgarien oder Polen auf der Straße leben oder im Gefängnis, während sie Hunger oder fehlender medizinischer Versorgung und/oder Folter ausgesetzt sind, vermittelt Europa vor allem eines: Die Botschaft, dass niemand für diese Menschen verantwortlich sein will. Die Zuständigkeiten werden an die Ränder Europas verlagert. Im Vordergrund steht das Ziel, Menschen möglichst schnell wieder los zu werden und sie, bis das gelingt, in untragbaren Verhältnissen am Rande des Kontinents festzuhalten. Die dramatischen Folgen dieser Zuständigkeitsprüfung, in der die Aufnahme von Geflüchteten zum bloßen Verwal- tungsakt wird, tragen vor allem die ankommenden Menschen selbst.

Deutschland = Sicherheit?

Samuel ist einer von ihnen. Kaum 14 Jahre alt wird er in Eritrea zum Militärdienst gezwungen. Die nächsten zehn Jahre ist er Soldat. Aus Angst um sein Leben und weil er nicht selber auf Menschen schießen will, desertiert er immer wieder. Erfolglos. Viereinhalb Jahre verbringt er deshalb im Militärgefängnis, ohne dass er je einen Richter gesehen hätte, ohne zu wissen, was mit ihm passieren würde. Er ist nicht mehr sicher und beschließt zu fliehen – sicher im Glauben, es würde ihm in Europa besser ergehen. Aber in Italien angekommen, fürchtet Samuel erneut um sein Leben. Über Mailand schafft er es nach Deutschland und wähnt sich in Sicherheit.

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Hinterland Magazin 29

Stip. Abgehängt
Die Roma leben auf dem Hügel, ohne an das sanitäre Netz oder an das Verkehrsnetz angeschlossen zu sein. Das Pferd sichert den Lebensunterhalt, der durch das Sammeln von allen möglichen Materialien bestritten werden muss.
Aus der Fotostrecke von Marc Millies und Allegra Schneider