Mutter, wie weit ist Vietnam?

Von Angelika Nguyen

Mutter, wie weit ist Vietnam?

Das ist der Titel eines Gedichts, das jahrelang im Lesebuch der DDR-Schulen stand, und ich hasste es. Geschrieben hat es Fritz Räbiger, ein Schlagertexter. Der Gegensatz zwischen der vorgeführten Modellsituation und meiner eigenen Lage war nur eine Ursache des Schmerzes, den dieser Text mir bereitete. Das Gedicht, in dem ein DDR-Kind seine Mutter nach dem exotischen Kriegsland Vietnam fragt und die Solidaritäts-Botschaft schlicht herleitet (“Mutter, du weinst – so nah ist Vietnam?”), spielte mit meinen Gefühlen Fußball. Denn mein Vater war wirklich im Vietnamkrieg.

Die Frage nach der Entfernung von Vietnam brauchte ich zu Hause nicht zu stellen, denn gerade diese machte uns das Leben schwer, und wenn jemand etwas zu weinen hatte, dann nicht jene erdachte Gedichtfigur, sondern meine Mutter und ich in Ostberlin und mein Vater in Hanoi.

Es war ein bestelltes Gedicht. Der Protest gegen den Vietnamkrieg war in den politischen Blöcken unterschiedlich verankert. Im Westen kam der Protest von unten, im Osten von oben. Dort war er Teil der Staats – politik gegen den Westen und Teil der Solidarität mit einem verbündeten Land und wurde offiziell gelenkt. Das hieß, dass es in der DDR keine gelebte Protestkultur gegen den Vietnamkrieg gab, keine selbst erworbene, schon gar nicht durchlittene Identifikation in der Bevölkerung. Das Resultat war eine Distanz zu allem, was von oben kam, also auch zur Internationalität, die ohnehin nur eine Behauptung war. Das ideologische, wirtschaftliche und geistige Binnengebilde DDR vollzog seine territoriale Abschottung endgültig mit dem Mauerbau 1961.

Wann fing alles an? 1956, als meine Eltern sich in Hanoi kennen lernten? 1957, als meine Mutter strafweise in die DDR zurückgeschickt wurde? In meinem Geburtsjahr 1961? 1967, als mein Vater in den Vietnamkrieg ziehen musste? Oder 1968, als meine Mitschüler mich an meinem ersten Schultag in die Ecke drängten und in seltsamer Einigkeit als “Chinesin” auslachten?

Was machen mit der täglichen schwitzenden Angst der langen Schuljahre? Angst vor einem falschen Wort, einem falschen Blick im Klassenraum, weil ich wusste, wann es wieder bei mir enden würde: mit dem Feixen der Mitschüler, den Bemerkungen, den Beleidigungen. Ganz falsch konnte auch eine Solidaritätsveranstaltung mit Vietnam in der Aula sein, und von denen gab es in meiner Schulzeit viele.

Während mein Vater in Hanoi stationiert war, kämpfte ich im befreundeten Bruderland an zwei Fronten: gegen die Kinder, die mich quälten und gegen die Plakate, Parolen und Lieder, die ein Mitgefühl bezeugten, dem ich in meinem Alltag selten begegnet war.

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