Hannah Arendt: All exclusive

Von Julia Schulze Wessel

All exclusive

Für Hannah Arendts Politische Theorie und Gegenwartsdiagnose hat die Figur des staatenlosen Flüchtlings eine elementare Bedeutung. Als sie ihre Analyse in den 1940ern formulierte, hatte sie die Millionen von Staatenlosen vor Augen, die durch die Gründungen neuer Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg die europäische Bühne betraten. Weil Tat und Verantwortung voneinander getrennt werden, zeichnen sich für Arendt Staatenlose durch eine „unmenschliche Unschuld“ aus. Den Skandal dieser Unschuld konstatiert Arendt ebenso für die totale Herrschaft

Wer die unsicheren und lebensbedrohlichen Situationen der heutigen Flüchtlinge beschreiben möchte, greift oftmals auf Hannah Arendt zurück. Das ist naheliegend, denn sie ist die erste und bis heute noch zentrale Denkerin, die einen ersten systematischen, an den Kategorien der Politischen Theorie geschulten Zugriff auf das mo – derne Phänomen des staatenlosen Flüchtlings vorgelegt hat. Ihre eindrücklichen Kapitel über die Aporie der Menschenrechte und die Situation der Staatenlosen in der Zwischenkriegszeit und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges sind einzigartig in der gesamten Politischen Theorie. Ihre Essays über die Flüchtlinge sind von einer melancholischen Klarheit getragen, die bis heute unübertroffen scheint. Die Tatsache, dass Hunderttausende von Menschen und Menschengruppen durch Krieg und Neuordnung der Nationen ihre Menschenrechte verlieren und so aus der Menschheit selbst herausgeschleudert werden können, „wird von ihr als Skandalon der Moderne herausgestrichen“1 . Auf ihre Auseinandersetzung wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen immer wieder verwiesen, wenn es um das ungelöste Thema der staatenlosen Flüchtlinge geht – von den Historikern Michael Robert Marrus und Dan Diner, über die PolitikwissenschaftlerInnen Michael Th. Greven und Seyla Benhabib bis hin zu den Philosophen Giorgio Agamben, Jürgen Habermas, Jaques Derrida und Etienne Balibar, der die „Hellsichtigkeit ihrer Voraussagen“ hervorhebt. Greven bescheinigt der Analyse Arendts „provozierende[…] Aktualität“ hinsichtlich des Zusammenlebens von Minderheits- und Mehrheitsgesell – schaft, und stellt im Anschluss an Arendt fest, dass der Flüchtling zu einem „politischen Schlüsselbegriff der Epoche“ geworden ist.

Vom Nationalstaat in die Heimatlosigkeit

Als Hannah Arendt in den 1940er Jahren über die Situation der Flüchtlinge schreibt, hat sie die Millionen von Staatenlosen und Flüchtlingen vor Augen, die durch die Gründungen neuer Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg die europäische Bühne betraten. Sie waren Opfer eines ethnischen Nationalstaatsverständnisses, das die Verbindung zwischen Geburt und Mitgliedschaft zum Strukturmerkmal der neuen Ordnungen machten. Diesen Versuch, Nationalstaaten auf Territorien „mit ihren gemi sch ten Bevölkerungen nach dem Modell des westlichen Nationalstaates zu reorganisieren“, bezeichnete Arendt bereits 1945 als „unverkennbare[n] Fehlschlag“. Denn nirgendwo in den neu zu gründenden Ordnungen gab es ein „Volk“, das einen Anspruch auf ein spezifisches Territorium hätte geltend machen können. Durch den Entzug der Staatsbürgerschaft wurden in diesen Staaten ehemalige Mitglieder zu Staatenlosen und damit gleichzeitig zu Flüchtlingen. Eine Unterscheidung zwischen beiden hat Arendt nicht vorgenommen, weil der Verlust der Staatsbürgerschaft gleichzusetzen war mit Flucht

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