Die Falle Marokko

Von Johannes Bühler

Die Falle Marokko

Mit nackten Oberkörpern, zerrissenen Hosen, lachenden Gesichtern, Freudenrufen, Dankesgebeten und leichten Schritten laufen sie durch die Straßen von Melilla. Sie haben es geschafft. Rund 500 Menschen überwanden am frühen Morgen des 28. Mai die Hochsicherheitszäune der spanischen Enklave an Marokkos Nordküste.

Es war einer der erfolgreichsten Grenzstürme in der Geschichte des Hochsicherheitszaunes um Melilla: Drei sechs Meter hohe und elf Kilometer lange Gitterzäune mit Wachtürmen, Klingendraht und ausgeklügelten Kletterblockaden, ausgestattet mit Scheinwerfern, Infrarotkameras und hochsensiblen Sensoren, welche jede verdächtige Bewegung schon weit vor dem Zaun registrieren. Noch nie versuchten so viele Menschen die Zäune der beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu überklettern wie dieses Frühjahr. Die beiden Städte haben die einzigen Landgrenzen Europas zu Afrika – die einzigen Fluchtwege von Afrika nach Europa, die kein Geld kosten. Es ist ein Akt der Verzweiflung, der letzten Hoffnung. Denn es bleibt nicht mehr viel Zeit. Diesen Sommer will die EU mit Marokko ein Rückübernahmeabkommen abschließen, wonach sämtliche Flüchtlinge in das maghrebinische Königreich zurückgeschoben werden können. Für die Reisenden vor den Toren Europas ist das ein Albtraum: Sie wären für immer in dem Land gestrandet, welches für sie jeden Mythos von Gastfreundschaft verloren hat. Im Auftrag Europas Die Decken in der fensterlosen Kammer sind feucht. An den Wänden hängt Schimmel. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tischchen. Hier lebt Moußa, mitten in Duardum, einem Slum von Rabat, der Hauptstadt Marokkos. Geschätzte 20.000 Reisende aus West- und Zentralafrika stecken in Marokko fest. Jeder mit seiner eigenen Geschichte. Moußa war neun Jahre alt, als er in den Kriegswirren in der Elfenbeinküste seine Mutter aus den Augen verlor. Ein fremder Mann nahm ihn auf der Straße bei der Hand und brachte ihn nach Mali. Er ist heute 22 Jahre alt. Seine Reise ist noch nicht zu Ende. Aber er habe keine Hoffnung mehr, sagt Moußa, nachdem er mir seine Geschichte erzählte. Hier, in Marokko, komme er nicht weiter. Die Reisenden vor den Toren Europas erzählen mir ihre Geschichten, von Fluchten und beschwerlichen Routen, von Träumen, Hoffnungen und der Suche nach einem Ort für ein würdiges Leben. Hier in Marokko hat ihre Reise vorerst geendet. Den Weg nach Norden versperren das Meer und eines der aufwendigsten Grenzüberwachungssysteme der Welt. Den Weg zurück versperrt die Hoffnungslosigkeit. Oder die Scham. Marokko sei kein Ort, an dem man Leben kann, sagt Serge. Der junge Ivorer sitzt hinter einem klapprigen Schuhmachergestell und näht die Sohle eines weißen Turnschuhs zusammen. „Fünf Dirham“, sagt er dem Marokkaner, als er fertig ist. Fünfzig Cent. „Eine andere Arbeit findest du nicht“, meint Serge. „Da musst du glücklich sein, wenn du am Tag fünf Euro verdienst.“ Serge versuchte über dreißig Mal, die Festung Europa zu entern. Er kletterte über die Grenzzäune, stach mit Schlauchbooten ins Meer, schwamm über die Grenzlinien. Drei Jahre dauert sein Sturm bereits an.

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