Der kurze Sommer der Bewegungsfreiheit

Von Christian Jakob

Die unerwarteten Ereignisse ab September diesen Jahres haben so einige Veränderungen mit sich gebracht: Das Dublin-System wurde aufgebrochen, Deutschland gilt plötzlich als Weltmeister der Herzen, was die Flüchtlingsaufnahme betrifft und eine Vielzahl an Helferinnen und Helfern heißen Flüchtlinge willkommen. Was aber steckt hinter der plötzlichen Aufnahmebereitschaft und was wird uns nach diesem Sommer der Bewegungsfreiheit erwarten? Eine kommentierte Zusammenfassung der letzten Monate.

Die größte Lüge dieser außergewöhnlichen Zeit war, dass die Grenze Ungarns in Richtung Österreich und Deutschland geöffnet wurde. Das Gegenteil war der Fall: Die, die die Grenzen für Flüchtlinge innerhalb Europas errichtet haben, versuchten mit aller Macht, sie geschlossen zu halten. Die dramatischen Szenen Anfang September am Budapester Bahnhof Keleti, der zum Symbol für die eskalierte Flüchtlingskrise wurde, mündeten nicht in eine Amnestie der Migrationskontrolle. Die Dublin-Grenze wurde aufgebrochen, nichts anderes. Es war die Stunde der Zurückweisung, der Demontage und Delegitimierung des europäischen Asylsystems. Als Merkel entschied, die Flüchtlinge aus Keleti nach Deutschland zu lassen, hat sie nur die Konsequenz aus einem politischen Notstand gezogen, den die Absurdität, die Ungerechtigkeit und die Menschenfeindlichkeit des Grenzregimes erst herbeigeführt haben.

Die Verneigung vor der Größe, die den Ereignissen von Keleti bei aller Verzweiflung innewohnt, gebührt denen, die es nicht akzeptiert haben, dass die Mächtigen in Kandahar und Asmara, in Damaskus, Rakka und Istanbul, in Berlin, Brüssel und London ihnen nichts weiter zugestehen mochten, als Unterwerfung, Elend, Vergessenwerden oder Tod. Ihr Lebensmut und ihre Kraft haben die Diktatoren, Dschihadisten und Warlords ebenso herausgefordert wie die Migrationsabwehr Europas. Keleti wurde zu einem Ort der Insubordination, des Ungehorsams und der Selbstbehauptung, der stärker war, als die Herrscher der mächtigen Staaten.

Jahrelange Untätigkeit der Bundesregierung

Dass Merkel ihre „humanitäre Verantwortung“ erkannt hat, wie ihr viele mit großer Begeisterung attestiert haben – und wie sie selbst nahegelegt hat – ist möglich. Für die historischen Ereignisse von Keleti aber ist es unerheblich. In den Jahren zuvor hatte die Bundesregierung mehr als genug Gelegenheit, humanitäre Verantwortung für die Opfer von Krieg und Vertreibung zu zeigen. Doch sie tat nichts, als ab 2012 die Situation in den Lagern rund um Syrien immer dramatischer wurde. Sie blieb untätig, als ab Oktober 2013 die Zahl der Ertrunkenen im Mittelmeer immer noch weiter anstieg. Sie ließ die kurdischen Menschen beim Kampf gegen die Dschihadistinnen und Dschihadisten des IS weitgehend im Stich, ebenso wie sie es bei der demokratischen Opposition in Syrien getan hatte, als diese noch halbwegs handlungsfähig war. Sie tat nichts, als in Griechenland und Italien die Lage für die ankommenden Flüchtlinge durch das Dublin-System immer unzumutbarer wurde – was, anders als in früheren Jahren irgendwann nicht mehr zu einem großen Teil den dortigen Regierungen anzulasten war.

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